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Fährenland führerlos 13.12.2007, 14:24Markus J. Marschner
Fährenland führerlos

Zwar ist Ungarn formell fest im Westen verankert, doch die Denkweise der Mehrheit, die politische Kultur, Praktiken in der Wirtschaft, weisen nach wie vor allzu häufig in die entgegengesetzte Richtung.

Die Metapher des großen ungarischen Symbolisten vom Anfang des 20 Jh., Endre Ady, über das Fährenland Ungarn kennen hierzulande viele. Er schrieb über dieses Land, auch in seinen kühnsten Träumen traue es sich nicht mehr zu, als von Ost nach West zu pendeln – doch eher zurück... Ady war dunkler Pessimist, wie so viele Ungarn – und das berechtigt, nicht nur hinsichtlich des großen Literaten, sondern auch mit Blick auf all die anderen. Ady hatte wie wenige den Abgang der Heimat nach dem ersten Krieg vorausgehen. Doch dürfte er kaum geahnt haben, dass seine Metapher ein Jahrhundert später noch immer so aktuell sein würde.

Zwar ist das Land formell fest im Westen verankert, doch die Denkweise der Mehrheit, die politische Kultur, die Praktiken vieler im Bereich der Wirtschaft weisen nach wie vor allzu häufig in die entgegengesetzte Richtung.

Vor einem Jahr beklagten wir in diesen Spalten ein „Annus horribilis.“ Das schreckliche Jahr mit seinen Krisen – die der Sozialisten, des Budgets und des Landes überhaupt: blutige Zusammenstöße, Dauerdemonstrationen, das Fernsehzentrum in Flammen. Totale Konfrontation der zwei großen politischen Lager. Damit einhergehend die Diskreditierung der Demokratie, des Parlaments, der Parteiwirtschaft in den Augen vieler. Die sich nicht in einen der Schützengräber werfen, sondern normal leben wollen.

Und ein Jahr später? Alles wie gehabt. Die Krisenatmosphäre dauert an. Die oft gespaltene Koalition der nunmehr zu Tode erschrockenen Sozialisten und der sich unnachgiebig gebärenden Liberalen konnte gerade einmal hastige, wenig durchdachte Halblösungen für die unerlässlichen Reformen einleiten. Diese bringen kaum viel – doch höchstwahrscheinlich den vorläufigen politischen Tod beider.

Die Wirtschaft stagniert, die Reallöhne, die sozialen und kulturellen Ausgaben gehen zurück. Premier Gyurcsány, diskreditiert doch angesichts einer fehlenden Alternative trotzdem nicht abgelöst, hofft, dass die Reformen doch noch greifen und das Steuer herumgerissen werden kann. Fürwahr, ein kühner Traum, denn die Sozis stehen aktuell bei 16-18 Prozent, der Fidesz könnte heute eine Zweidrittelmehrheit erreichen.

Also bleibt alles wie gehabt: Das Weiterwursteln einer abgenutzten Elite, die in ein/zwei Jahren auch dann keine Wunder vollbringen könnte, wenn sie wesentlich fähiger wäre.

Viktor Orbán verlangt und verspricht seit dem blutigen Herbst 2006 vorgezogene Wahlen und damit den Sieg der Bürgerlichen, die sich heute eher als Plebejer bezeichnen und vielfach mit links-populistischen Losungen dem verarmten Land und seinem Volk Erlösung und einen für alle sorgenden Staat versprechen. Doch für vorgezogene Wahlen im Jahre 2008 stehen die Chancen eher schlecht. Und mit dem Druck der Straße will sich der Oppositionsführer kaum erneut die Finger verbrennen.

Also bleibt alles wie gehabt: Das Weiterwursteln einer abgenutzten Elite, die in ein/zwei Jahren auch dann keine Wunder vollbringen könnte, wenn sie wesentlich fähiger wäre. Doch das ist sie nicht. Über die sich fieberhaft vorbereitende andere Mannschaft wissen wir viel zu wenig. Nur, dass sie ebenfalls aus Menschen besteht und so auch zu keinen Wundern fähig sein dürfte. Doch das unglückliche Fährenland verdiente, dass es endlich fest verankert und anständig regiert wird. „Zehntausende rannten voran, sie wurden Europäer ..., dieser Menschentyp ist der ungarischen Gesellschaft zumindest ein Jahrhundert im Voraus. Sie ahnten gar nicht, dass die Hunderttausende ihnen nicht folgten“, schrieb Ady. Wie wahr.

-ai

(c) Pester Lloyd

Quelle

http://www.pesterlloyd.net/2007_50/0750kommentar/0750kommentar.html
Wirklich gute Freunde sind Menschen, die uns ganz genau kennen, und trotzdem zu uns halten.

Marie von Ebner-Eschenbach

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