balaton-service.info - Das Forum für Ungarn / K u l t u r / Ungarn kämpft gegen Arme statt gegen Armut In diesem Thread befinden sich 1 Posts. | ||||
Ungarn kämpft gegen Arme statt gegen Armut | 14.01.2015, 17:22 | anton | ||
---|---|---|---|---|
Die ungarische Regierung wurde für ihr Gesetz gegen das Wohnen im Freien heftig kritisiert. Das Problem der Obdachlosigkeit in Budapest bleibt bis heute ungelöst. «Kalt? Es ist doch nicht kalt!» Zoltan lacht und entblösst dabei die wenigen bräunlich verfärbten Zähne, die ihm verblieben sind. Er habe doch eine warme Decke, sagt er und zieht sich den braunen Fleece bis zum Hals. Die Temperatur liegt an diesem nebligen Budapester Wintertag um den Gefrierpunkt, fühlt sich aber wegen des eisigen Windes deutlich kälter an. Vor dem wenige Schritte entfernten Bahnhof Nepliget im Südosten der Stadt verkauft eine Frau Kürtöskalacs, ein typisches lokales Hefegebäck. Trotz ihren mit Fell gefütterten Stiefeln steht sie auf einer dicken Styroporplatte, um sich vor der nassen Kälte des Bodens zu schützen. Alles verloren Zoltan dagegen liegt auf mehreren Schichten Karton, den massigen Oberkörper von einer zerschlissenen Tasche gestützt, in der er sein Hab und Gut aufbewahrt. Seit vier Monaten lebt der Obdachlose bereits hier unter einer grossen Autobahnbrücke, von der das stetige Rauschen des Verkehrs zu hören ist. Ein guter Platz, wie er findet, sicher vor Wind und Regen. Doch der Aufenthalt hier wäre ihm nach einem von der Stadt Mitte November erlassenen Gesetz verboten (vgl. Kasten). Bis jetzt wurde Zoltan von der Polizei allerdings in Ruhe gelassen, nur seine Kartons wurden zwei Mal weggeräumt. Der Mann mit dem zerzausten grauen Bart und dem verfilzten Haar lebt bereits seit elf Jahren auf der Strasse. Er habe nie viel Geld gehabt, sich und seine Familie immer mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, erzählt er. Nach der Scheidung habe er alles verloren. Istvan kehrt mit einem vollen Plasticsack zum Lager unter der Brücke zurück, das er mit Zoltan teilt. Er hat leere Büchsen und Flaschen aus Abfalleimern gesammelt und kippt diese auf einen Haufen mit übrigem verwertbarem Müll. Für zurückgebrachte Flaschen und Dosen erhalte er im Supermarkt ein paar Forint, erklärt Istvan. Das sei einfacher als das Betteln in den Metrostationen, wo Obdachlose auch nicht mehr geduldet würden. Istvan verlor vor vier Jahren seine Stelle als Bäcker. Mit 50 und mitten in der Krise sei es aussichtslos gewesen, wieder eine Arbeit zu finden. Seither lebt er auf der Strasse. Zoltan und Istvan werden auch die Nacht unter der Brücke und nicht in einer der zahlreichen Notschlafstellen verbringen. Zoltan mag die vielen Leute nicht, und Istvan wurde das letzte Mal rausgeworfen, weil er in einer Einrichtung getrunken hatte. Für Gabor Lindeborg, der sich seit zehn Jahren als Sozialarbeiter um Obdachlose kümmert, ist das ein vertrautes Problem. Viele Obdachlose seien das harte Leben auf der Strasse schon seit Jahren gewohnt und wollten sich nicht an Regeln halten. Zudem klagten sie über mangelnde Privatsphäre und abhandengekommene Gegenstände in den Unterkünften. Tausende von Betten fehlen Es sei heute für jeden Obdachlosen gesorgt, betonte die konservative Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban im Zusammenhang mit ihrer vielkritisierten Gesetzgebung, die Kommunen ermächtigt, Obdachlosen den Aufenthalt an vielen Orten zu verbieten. Tatsächlich ist die Zahl der Schlafplätze in Budapest in den letzten Jahren auf 6000 gestiegen. Damit fehlen aber immer noch Tausende von Betten. Zwar ist die Zahl der Obdachlosen schwer abzuschätzen, weil etwa jene, die ohne Kontakt zu Hilfsorganisationen in leerstehenden Abbruchhäusern oder in Wäldern am Stadtrand leben, kaum erfasst werden. Behörden und Nichtregierungsorganisationen schätzen die Zahl der Betroffenen in Budapest aber auf mindestens 10 000. Dennoch seien die Notquartiere nur zu etwa 80 Prozent ausgelastet, heisst es seitens der Regierung. Lindeborg erklärt allerdings, dass die einigermassen akzeptablen Unterkünfte im Winter stets ausgelastet seien und Wartelisten führten. Dagegen seien die Heime, in denen es oft freie Plätze gebe, meist in einem desolaten Zustand. Lindeborg ist an diesem Tag im Krisendienst für die Stiftung Menhely (Obdach), der ältesten und wichtigsten unabhängigen Hilfsorganisation für Obdachlose in Ungarn. Greift die Polizei in der Stadt einen Obdachlosen auf, meldet sie dies einer Zentrale, die wiederum die Sozialarbeiter aufbietet. Bis zu seinem nächsten Einsatz hilft Lindeborg in einem Tageszentrum der Stiftung im VIII. Stadtbezirk aus und schöpft dampfende Gulaschsuppe in Geschirr, das auf einem Tresen bereitsteht. Zwei Dutzend Randständige sitzen an den Tischen in dem fensterlosen Raum, Männer jeden Alters und eine etwa 40-jährige Frau. Es ist stickig und heiss, dennoch tragen die meisten ihre Jacken, während sie apathisch ihre Suppe löffeln, schlafen oder auf den Fernseher in der Ecke starren. Viele scheinen unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen zu stehen. Im Tageszentrum erhalten die Obdachlosen nicht nur eine warme Mahlzeit, sie können auch die sanitären Einrichtungen, die Waschmaschine sowie einen Computer nutzen und werden von Sozialarbeitern bei der Stellensuche oder im Umgang mit den Behörden unterstützt. Rund 48 000 Personen habe allein Menhely in den letzten fünf Jahren geholfen, erklärt der Direktor Zoltan Aknai. Die Zahl der Obdachlosen habe in dieser Zeit, bedingt durch die Wirtschaftskrise, deutlich zugenommen. Tausende von Ungarn hatten sich ab dem Jahr 2000 mit Fremdwährungskrediten verschuldet, die viele nach dem Absturz des Forint nicht mehr bedienen konnten. Sie verloren deshalb ihre Wohnung. Zudem wurden aus Kostengründen mehrere psychiatrische Kliniken geschlossen, darunter 2007 von der sozialistischen Regierung das grösste Institut Lipotmezö im II. Bezirk Budapests. Über 1000 Patienten standen über Nacht auf der Strasse. Viele von ihnen seien obdachlos geworden, sagt Aknai. Die Menschen, die sich von Obdachlosen gestört fühlten, sähen diesen Hintergrund oft nicht. Das Problem bitterer Armut ist in Budapest jederzeit sichtbar, im herausgeputzten Stadtzentrum ebenso wie an der Peripherie der Stadt. Menschen schlafen in Lüftungsschächten, wühlen in Mülleimern, betteln um ein paar Forint. Doch für Unmut in der Bevölkerung hätten nur wenige gesorgt, psychisch Kranke und Alkoholiker, sagt der Sozialarbeiter mit langjähriger Erfahrung. Diese benötigten ärztliche Hilfe. Das neue Gesetz aber gelte für alle, und es begegne einem sozialen Problem mit dem Strafrecht. Zurückhaltende Polizei Denselben Vorwurf erhebt auch Gyula Balog, der selber jahrelang obdachlos war und sich seit der Gründung 2009 für die Gruppierung «A Varos Mindenkie» (AVM, Die Stadt gehört allen) engagiert. Die lose Vereinigung besteht zum grossen Teil aus Obdachlosen und macht immer wieder mit aufsehenerregenden Aktionen auf sich aufmerksam. Zuletzt stürmte sie im November das Budapester Stadtparlament und versuchte so, den Erlass der strengen Verordnung zu verhindern. Das neue Gesetz sei reine Schikane und ändere am herrschenden Missstand nichts, ereifert sich Balog. In harten Worten zweifelt er auch die Beteuerungen der Regierung an, es werde für die Obdachlosen gesorgt. Im Sommer seien die Heime zwar nicht ausgelastet, aber im Winter seien auch schmutzige Luftschutzräume mit 120 Feldbetten von Frauen und Männern jeden Alters besetzt. Balog verfiel schon als Jugendlicher dem Alkohol, nachdem eine Hirnhautentzündung seine Gesundheit beeinträchtigt hatte. Von der Familie wurde er wegen seiner Sucht verstossen, inzwischen ist er aber seit über 7000 Tagen trocken, wie er nicht ohne Stolz erzählt. Er verdient als Redaktor einer Obdachlosenzeitung ein wenig Geld, mit dem er sich ein subventioniertes Zimmer in einem ehemaligen Arbeiterwohnheim leisten kann. Der 55-Jährige Balog fordert von der Polizei genaue Angaben, wie viele Obdachlose bereits registriert wurden. Zudem verlangt AVM mehr bezahlbaren Wohnraum und sucht den Dialog mit den Bezirksvorstehern. Die Verhandlungen mit Beamten der Exekutive, die direkt mit dem Problem der Obdachlosigkeit zu tun hätten, seien leichter als mit Parlamentariern, die nur ihren politischen Vorteil im Auge hätten, meint Balog. Einig sind sich Balog und Aknai darin, dass die Polizei seit dem Inkrafttreten der Budapester Verordnung vor bald drei Monaten zurückhaltend agiere. Die Zusammenarbeit zwischen den Behörden und seiner Stiftung funktioniere gut, findet Aknai. Balog erklärt, dass rund 60 Personen bisher wegen Missachtung der Verordnung auf den Polizeiposten gebracht und registriert worden seien. Verstösst jemand zum dritten Mal gegen die Regelung, kann die Person zu sozialem Arbeitsdienst oder einer Geldstrafe verurteilt werden. Kann oder will sie dies nicht leisten, droht Haft. Aknai kennt noch keinen Fall von Busse oder gar Gefängnisstrafe. Balog spricht von einem einzigen verurteilten Obdachlosen. Sowohl Aknai als auch Balog befürchten aber, dass die Polizei im Frühling, wenn wieder mehr Obdachlose im Freien übernachten und sich die Aufregung gelegt hat, härter durchgreifen wird. Ordnungswidrigkeit Für Ferenc Kumin, der stellvertretender Staatssekretär in der ungarischen Regierung und zuständig für Kommunikation ist, hat das neue Gesetz selbst dann nichts mit der vielzitierten «Kriminalisierung» von Obdachlosen zu tun, wenn es im äussersten Fall zu einer Haftstrafe käme. Es handle sich lediglich um eine Ordnungswidrigkeit und nicht um eine Straftat, in den Folgen vergleichbar mit einer Verkehrsübertretung. Es gebe aber eine klare Differenz zur Vorgängerregierung, welche die Obdachlosen einfach habe leben lassen, wo und wie diese wollten. Seine Regierung vertrete den Standpunkt, in aller Öffentlichkeit der Kälte ausgesetzt und ohne Privatsphäre zu leben, sei mit der Menschenwürde unvereinbar. Kumin wehrt sich aber auch gegen die häufig geäusserte Kritik, die Regierung bekämpfe nur die Sichtbarkeit der Armut und nicht deren Ursachen. Es sei in den letzten vier Jahren viel Geld in Einrichtungen für Obdachlose investiert worden (vgl. Kasten), betont er. Zudem habe die Regierung die Schuldner von Fremdwährungskrediten unterstützt, etwa mit der Festsetzung eines günstigen Wechselkurses. Und schliesslich seien auch die eingeführten kommunalen Beschäftigungsprogramme eine Möglichkeit, Langzeitarbeitslose wieder zu integrieren. Aknai sieht das anders. Obdachlos zu sein, sei keine Wahl. Das Gesetz sei geeignet, die Wahrnehmung von Obdachlosen in der Bevölkerung negativ zu beeinflussen und diese zu stigmatisieren. Das Geld für Repression und Strafen könne man für die Problembewältigung besser gebrauchen. Balog spricht der Regierung den guten Willen gänzlich ab. Sie habe versprochen, gegen die Armut zu kämpfen, doch stattdessen kämpfe sie gegen Arme. Weite Teile der Hauptstadt sind «rote Zonen» bam. Budapest ⋅ Im vergangenen September erlie das ungarische Parlament mit den Stimmen der konservativen Regierungspartei Fidesz ein Rahmengesetz, wonach die Kommunen nach eigenem Ermessen Zonen bestimmen dürfen, in denen Obdachlosen der Aufenthalt im Interesse der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung verboten ist. Der Aufenthalt an Orten, die zum ungarischen Weltkulturerbe gehören, ist ihnen grundsätzlich verwehrt. Im Widerhandlungsfall drohen Bussen, gemeinnützige Arbeit oder Freiheitsstrafen. Auf der Grundlage dieser Bestimmung verabschiedete der Stadtrat von Budapest im November eine Verordnung, die «ständiges Wohnen» in vielen Gebieten untersagt. Neben Stätten des Weltkulturerbes, die weite Teile der Innenstadt entlang des Donauufers umfassen, gehören dazu Metrostationen, die Umgebung von Spielplätzen, Friedhöfen und Schulen sowie Brücken und Unterführungen. Ein Stadtplan der Stiftung Menhely weist weite Teile Budapests als «rote Zonen» für Obdachlose aus. Auch in Debrecen, der zweitgrößten Stadt Ungarns, wurde eine ähnliche Verordnung erlassen. Doch ist das Problem vor allem in der Hauptstadt akut, wo die Zahl der Betroffenen auf mindestens 10 000 geschätzt wird gegenüber rund 500 Obdachlosen in Debrecen. Die nationale Rahmenregelung wurde nicht nur von Oppositionsparteien und Nichtregierungsorganisationen verurteilt, sondern stieß auch international auf heftige Kritik. Ungarn «kriminalisiere» Obdachlose, hieß es, und eine Sonderberichterstatterin der Uno forderte Budapest zur Revision der Bestimmung auf. Die Regierung dagegen argumentiert, die Maßnahmen dienten vor allem dem Schutz der Obdachlosen, da diese angehalten würden, eine geeignete Einrichtung aufzusuchen. Sie führt dazu Statistiken ins Feld, wonach die Zahl der Plätze in Obdachlosenheimen seit 2011 von 8200 auf über 11 000 gestiegen sei und allein im vergangenen Jahr 9 Milliarden Forint (gut 35 Millionen Franken) für Obdachloseneinrichtungen und Unterstützungsprogramme ausgegeben worden seien. Laut dem Regierungssprecher Ferenc Kumin sind in den Jahren 2006 bis 2010 in Budapest 131 Personen erfroren. Seit 2010, als in der Hauptstadt ein ähnliches wie das nun geltende Gesetz in Kraft trat, sei nur noch ein Erfrierungstod gezählt worden. Kritiker führen dies jedoch auf eine veränderte Zählweise zurück. Heute würden nur noch am Ort Erfrorene in dieser Statistik geführt, nicht aber diejenigen, die später an den Folgen von Unterkühlung sterben. Die Regierung betont außerdem, dass die Gesetzeslage in vielen anderen Ländern und Städten ähnlich sei. Tatsächlich sorgte allein in den letzten Monaten das härtere Vorgehen gegen Obdachlose etwa in Wien oder Madrid für Schlagzeilen. Ungarn wurde aber auch deshalb besondere Aufmerksamkeit zuteil, weil die Regierung Orban bereits zu Beginn ihrer Amtszeit ein entsprechendes Gesetz erlassen hatte, das das Verfassungsgericht Ende 2012 für ungültig erklärt hatte. Mit der umstrittenen vierten Änderung des Grundgesetzes hob die Regierung mit ihrer Zweidrittelmehrheit ihr Vorhaben im letzten März kurzerhand in den Verfassungsrang, was als Umgehung des Höchstgerichts scharf kritisiert wurde. Für Kumin handelt es sich aber nicht um eine geringfügige Frage, die aus machtpolitischen Gründen auf Verfassungsebene geregelt wurde. Es gehe der Regierung um die Garantie eines würdevollen Lebens. Dafür sei die Verfassung der richtige Ort. Zudem verweist er auf die Absichtserklärung im ersten Absatz des fraglichen Paragrafen, laut der Ungarn bemüht ist, jeder Person angemessenen Wohnraum zu sichern. Was nutzt da ein Gesetz, denn die Kultur der Armut in Ungarn greift um sich. |