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balaton-service.info - Das Forum für Ungarn / A k t u e l l e s / Was man gerade erfahren hatt / Von zwei auf eins
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piccolino
icon01.gif Von zwei auf eins - 14.09.2008, 13:05:33

816 Posts - Einbürgerungswilliger
leben u. leben lassen
Von zwei auf eins
Von Ákos Szilágyi
Montag, 8. September 2008
Wie gelangen wir von zwei auf eins? Von zwei Ungarn auf jenes eine Ungarn, das in der kulturellen Welt der geformten Vielfalt, in einem System der geteilten Macht existiert, das selbst jedoch unteilbar ist: Kann das Land entlang einer herbei geredeten und fantasierten, einer geschürten und suggerierten innenpolitischen Konfliktlinie in „Freund“ und „Feind“ entzweit werden?

Dessen Volk höchstens auf dem Bildschirm – atemlos oder gelangweilt, erbost oder gleichgültig – das Programm verfolgt: das rasende Wagenrennen der heutigen Zirkusparteien der „Blauen“ und „Grünen“. Das Volk indes hat nicht die geringste Lust, am zirzensischen Handgemenge teilzunehmen: seine physische Gesundheit zu riskieren, sein Auge zu verlieren, sich in Raufhändel zu verwickeln, auf die Straße zu schreiten und Taten sprechen zu lassen, Pflastersteine und Molotow-Cocktails zu werfen, herumzuballern, in die Luft zu jagen. Es lässt sich auch nicht von diversen politischen Rattenfängern, Schlangenbeschwörern und Medienhypnotiseuren zweiteilen, es lässt die Heimat nicht entzweireißen, und es lässt nicht Missgunst und Hass zwischen den Bürgern schüren: In den Regionen, Städten, Bezirken, Familien, Körperschaften und Machtzweigen wird der Geist des „kalten“ Bürgerkriegs fortwährend gesät, sein heißer Atem weht immer heftiger über die Straßen und Plätze und sein Feuer wird von der privaten Medienmaschinerie von Big Brother und Co von beiden Seiten mit dem Rosenöl des Hasses und Überschwangs begossen. Soll doch die Flamme lodern, die Heilige Flamme der Gerechtigkeit, selbst wenn die Welt untergeht! Unsere Welt! Na und!

Mit dem Dualismus gibt es an und für sich kein Problem. Der Dualismus ist nicht des Teufels Werk. Ja, es gehören zu ihm stets zwei, auch in der Politik. Menschliche Existenz erfordert mindestens zweier Stimmen. Das Leben hat keinen „Platz“ in nur einer einzigen Stimme. Eine einzige Stimme, schreibt der große russische Philosoph Mihail Bahtin, bringe weder etwas zu Ende noch löse sie etwas. Zwei Stimmen: Minimum des Lebens, Minimum der Existenz…Zu sein heißt, sich dialogisch auszutauschen. Wenn der Dialog zu Ende geht – ist alles zu Ende. Deshalb darf der Dialog niemals zu Ende gehen, und er muss auch nicht zu Ende gehen.

Die dialogische Zweiheit ist also keineswegs Quelle von Zwietracht und Chaos, sondern eine in ihrer Vielfalt existierende lebendige Einheit. Demgegenüber ist jener Dualismus, der den Dialog nicht kennt oder ihn missachtet, unversiegbare Quelle des Chaos, des Krieges und der Zerstörung – hierher gehört auch die aus dem Chaos hervor gehende Ordnung schaffende Einstimmigkeit, sprich die Verwüstungen der Tyrannei. In seinen „Gedanken über die Religion und andere Themen“ formulierte Blaise Pascal mit genialer Schlichtheit sinngemäß wie folgt: Wenn die Vielfalt nicht zur Einheit zusammenwachse – bedeute sie Chaos; wenn die Einheit nicht von der Vielfalt abhänge, bedeute sie Tyrannei.

Der Dualismus führt mithin nur dann zu Zwietracht, Feindschaft, Hass und Krieg, wenn er nicht Zweistimmigkeit, nicht gegenseitige Anerkennung und nicht das wechselseitige Anhören zweier miteinander im Widerstreit stehender Lager bedeutet, sondern zwei in sich geschlossene Stimmen, zwei hermetisch abgeschottete Einstimmigkeiten, die jede Berührung reflexartig ablehnen, jede mögliche oder notwendige Gemeinschaft und jeden Dialog verschmähen und in allgemeiner Feindschaft verharren, was zur Folge hat, dass zwischen den zwei Stimmen nur eine einzige Art der Berührung möglich ist: die Gewalt. Ein solcher Dualismus ist nicht die von innen entspringende Teilung der politischen Gemeinschaft – des Ganzen – in einander gegenüber stehender, aber gleichermaßen existenzberechtigter Seiten, einander zuwider laufender, aber einander anerkennender, anhörender und dialogisch miteinander verflochtener Stimmen, sondern der Tod der politischen Gemeinschaft; er ist auch nicht ein Pfand für Freiheit und inneren Frieden einer in ihrer Vielfalt geformten politischen Gemeinschaft, sondern die kriegerische Dichotomie von „Freund“ und „Feind“ und der gegen sich selbst geführte permanente Vernichtungskrieg einer entzweiten oder gespaltenen Gemeinschaft.

Das kürzlich auf Ungarisch erschienene Buch des Ägyptologen Jan Assmann unter dem Titel „Herrschaft und Heil“ setzt sich brillant mit dem Fragenkomplex der politischen Theologie – das heißt den Zusammenhängen zwischen politischer Gemeinschaft und religiöser Ordnung – auseinander und verweist auf Carl Schmitts berühmt-berüchtigten Politikbegriff, der auf der Freund-Feind-Unterscheidung basiert und die Politik grundsätzlich auf eine Politik der Gewalt reduziert: Demnach besteht „echte Politik“ darin, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden und in der Bereitschaft, dem Gegner gegenüber Gewalt anzuwenden. Nur dass diese Unterscheidung nicht der Sphäre der Politik, sondern jener der politischen Gewalt zugrunde liege, schreibt Assmann. Schmitt habe Politik und Gewalt schlicht und einfach in einen Topf geworfen. Im Gegensatz zu diesem extrem eng bemessenen Politikbegriff umreißt Assmann einen anderen, in dem gewaltfreie Aktionen ebenso Platz zur Entfaltung haben wie Neutralität und ein gemeinsames – kein konfrontatives – Handeln: Politisch zu denken und zu handeln bedeute unter anderem, dass wir uns als Mitglied eines politischen Lagers auffassen und dieses Ganze vor Augen haltend als ein Teil davon auftreten, was heißt, dass wir das Ganze verantwortungsbewusst vertreten und repräsentieren und auf dieser Grundlage argumentieren. Demgegenüber stünde jene Existenz, die rein privat sei, die ausschließlich die eigenen persönlichen Interessen verfolge und die jedwede höherwertige Gemeinschaften, Verpflichtungen und Interessen ignoriere. In diesem Fall sei nicht die Freund-Feind-Dichotomie entscheidend, sondern die Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Sphäre, zwischen Eigenem und Gemeinsamem. Die gemeinsame Sache gewinne ihre Bestimmung nicht durch den gemeinsamen Feind, sondern durch eine Distanzierung von den Privatinteressen.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass in der vergangenen Dekade in der ungarischen politischen Praxis – vor dem Hintergrund einer scheinbaren „Weimarisierung“ der parlamentarischen Demokratie und des Rechtsstaates – der von Carl Schmitt geprägte Politikbegriff – der die „Weimarer Demokratie“ von einer politisch-theologischen Warte aus verachtete und hasste – immer mehr zum Tragen kommt: Was wir sehen, ist nicht ein Wettkampf von Parteien, die als Vertreter einer politischen Gemeinschaft auftreten und danach trachten, einerseits die gemeinsamen Angelegenheiten voranzutreiben, andererseits der Gerechtigkeit und dem Recht Geltung zu verschaffen. Vielmehr ist ein Krieg zwischen „Freund“ und „Feind“ zu beobachten (theologisch ausgedrückt ist es eine alles entscheidende Schlacht zwischen dem Guten und dem Bösen, Gott und Satan), der nur durch die Vernichtung des „Feindes“ (das Böse) zu einem Ende gebracht werden kann. Wenn der politische Wettkampf zwischen „Freund“ und „Feind“ vonstatten geht, kann der Kontakt mit dem anderen nur auf kriegerische Weise oder nach der vernichtenden Logik der Kriegsgewalt – koste es, was es wolle! – aufgenommen werden. Zwischen „Freund“ und „Feind“ gibt es keine Kooperation, gibt es kein gemeinsames Auftreten, keinen Kompromiss und kein gemeinsames Abstecken ferner und naher, kleiner und großer Ziele. Wie könnten wir auch gemeinsame Ziele mit jenem „Feind“ haben, der auf unsere Vernichtung und Unterwerfung sinnt. Wer wagt dies zu behaupten? Wer tappt derart im Dunkeln?

Laut dem apokryphen Thomas-Evangelium hat Jesus sinngemäß folgendes gesagt: Wenn zwei Menschen im selben Haus miteinander in Frieden lebten und sie dem Berg befählen, weiterzurücken, dann werde der Berg weiterrücken. „Aus zwei mach eins“ im religiösen Sinn ist freilich nicht dasselbe wie im politischen Sinn. Die Einheit der politischen Gemeinschaft ist von dieser Welt. Dies bedeutet, dass jene unteilbare himmlische Harmonie niemals verwirklicht werden kann, von der nicht einmal die Gläubigen etwas wissen und deren dämonische Parodie die unteilbare Einheit der Tyrannei ist. Die Einheit der politischen Gemeinschaft setzt nicht die Aufhebung des Dualismus und der Vielfalt voraus, sondern die Entfaltung eines dialogischen Miteinanders. Aus dem immer weiter um sich greifenden Chaos des „kalten Bürgerkriegs“ vermögen wir uns nur zu befreien, wenn wir aus zwei eins machen – man könnte es auch „politische Selbstvereinigung“ nennen. Solange wir einander in demselben Haus – im ungarischen Staat – als „Freund“ und „Feind“ gegenüber stehen, wird auf unser Geheiß nicht nur nicht ein Berg weiterrücken. Auch ein kleinerer Hügel wird sich vor Lachen schütteln.



Ákos Szilágyi (geboren 1950) ist Dichter, Essayist und Übersetzer. Der hier abgedruckte Text erschien am 26. Juli in der Wochenendbeilage (hétvége) der Tageszeitung Népszabadság.



Aus dem Ungarischen von Peter Bognar.

http://www.budapester-zeitung.de/index.php?option=com_content&task=view&id=2999&Itemid=30
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