balaton-service.info - Das Forum für Ungarn Forum

Übersicht
 
Anmelden
 
Suchen
 
Hilfe
 
Top-User
 
Login
 
balaton-service.info - Das Forum für Ungarn / Sehenswertes, Kultur, Kneipenführer / K u l t u r / Briefe aus der Werkstatt des Nachdichters
In diesem Thread befinden sich 1 Posts.
Bewertung: 7
Blasius
icon01.gif Briefe aus der Werkstatt des Nachdichters - 26.04.2009, 16:35:58

8711 Posts - Magyar Vagyok
Kocsis
Briefe aus der Werkstatt des Nachdichters
Franz Fühmann, 1961-1984, mitgeteilt vom Adressaten
Paul Kárpáti/Közzéteszi a levelek címzettje Kárpáti Pál
(2007, Pernobilis Edition/Engelsdorfer Verlag/2007, Argumentum Verlag, Budapest).
Besprechung von Lutz Volke

"Ich schaue in die ungarische Lyrik wie ein tauber Ali Baba,
dem man, da er den öffnenden Zauberspruch nicht mehr
lernen kann, Fensterchen in den Sesamberg schlägt, hier eins
und dorten noch eins, und durch diese Fensterchen sieht er
dann Schätze funkeln, doch immer nur die, die das Fenster
ihm zuweist, und nie die Gesamtheit, und nie den Zusammenhang."


So steht es in Franz Fühmanns Notizen zu einer Ungarnreise, die
unter dem Titel "Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens"
1974 im Rostocker Hinstorff Verlag erschienen sind. Der wichtigste
Fensteröffner war für Fühmann - wie auch für viele andere deutsche
Autoren, die sich mit Nachdichtungen ungarischer Lyrik befassten -
der für viele Jahrzehnte an der Humboldt-Universität in Berlin tätige
ungarische Philologe und Übersetzer Paul Kárpáti. Ohne ihn ist ein
großer und wichtiger Teil des Fühmannschen Schaffens, die
Nachdichtungen aus dem Ungarischen und dazugehörige Aufsätze,
nicht denkbar.

Die Arbeitskontakte zwischen beiden waren so eng, dass nun ein
ganzer Band mit Briefen erscheinen konnte, die Franz Fühmann
an Paul Kárpáti richtete. Und das wiederum ist nach den Auskünften
des Adressaten nur ein winzig kleiner Teil des Gedankenaustauschs
zwischen dem Nachdichter und seinem Internlinearübersetzer.
Denn Kárpáti ist mehr als ein braver Zeilenübertrager, er ist -
mit fundamentalem Wissen über die ungarische Literatur
ausgestattet - ein feinsinniger Berater und Aufklärer über
alle Finessen und Nuancen der ungarischen Sprache, in die
Fühmann, so sehr er sich auch mühte, zu seinem Leidwesen
nur oberflächlich einzudringen in der Lage war, aber deren
lyrisches Potential er sich und seinen Lesern in größtmöglicher
Annäherung erschließen wollte.

Fühmann war in mehrfacher Hinsicht auf seinen Mitarbeiter
angewiesen, wie sehr, das geht aus vielen Briefen hervor,
in denen er ihn zum einen flehentlich bat, doch bitte so schnell
wie möglich Interlinearübersetzungen zu besorgen, und in denen
er zum anderen dessen Kritik "ganz unverblümt und völlig offen"
herausforderte.
Der 1984 im Alter von 62 Jahren verstorbene Franz Fühmann
steht heute, was sein ureigenstes Schaffen betrifft, vor allem
als Prosaautor vor unseren Augen. Seine Anfänge jedoch
lagen in der Lyrik, und ihr galt lebenslang seine große Liebe.
Seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre aber, für Fühmann
eine Tragödie, versiegte die innere Quelle, aus der sich seine
Lyrik speiste. Da wird es ihm geholfen haben, dass Stephan
Hermlin ihn bat, für einen Band des bis dahin in Deutschland
völlig unbekannten ungarischen Lyrikers Attila József einige
Gedichte nach Rohübersetzungen zu übertragen.

Das Büchlein erschien 1960 in den Verlagen Volk und Welt,
Berlin, und Corvina, Budapest. Fühmann, als Nachdichter
seinem ungarischen Kollegen Gábor Hajnal bereits bekannt,
wurde von diesem nun zu weiteren Nachschöpfungen animiert.
Hajnal wies ihn u.a. auf den hierzulande genauso unbekannten
Miklós Radnóti hin.

Und von diesem Zeitpunkt an kommt Paul Kárpáti ins Spiel.
In einem ersten Brief vom Dezember 1961 bittet Fühmann Kárpáti
um Zusammenarbeit, die sich dann bis zu Fühmanns Tod hinzog.
Noch am Krankenlager nach schweren Operationen arbeiteten
beide zusammen an Dichtungen. Die letzte Karte an Kárpáti,
datiert vom 27. Juni 1984: "Lieber Herr Kárpáti, zum Monster,
was meinen Sie…" (es ging um ein Gedicht von Ágnes Nemes
Nagy), am 8. Juli verstarb Fühmann.

War es nun bloßer Zufall, der Franz Fühmann zur ungarischen
Lyrik führte? Zu Anfang vielleicht. Dann aber baute sich eine
innere Beziehung auf, die sein Leben berührte, ja, wandelte
(Fühmann benutzte den Begriff "Wandlung" häufig und gern
in Bezug auf sich selbst). Die Beschäftigung mit Miklós Radnóti,
1967 in den bei Volk und Welt erschienenen Band "Ansichtskarten"
mündend, bedeutete ihm mehr als poetisches Nachempfinden.
Bei Radnóti (1909-1944) lag eine Einfühlnahme und sogar
Identifizierung vor, die vielleicht als Wunschautobiografie
bezeichnet werden könnte, ähnlich der Annäherung von
Peter Weiss an seinen Ich-Erzähler in der "Ästhetik des
Widerstandes".

Wenn da nicht das kaum vorstellbare,
schreckliche Ende Radnótis, dieses begabten Dichters und
"Geschichtsschreibers ganz Europas" wäre: Arbeitslager der SS,
Genickschuss. In seinem Aufsatz "Der Dichter zwischen zwei Kriegen"
schreibt Fühmann: "Die Menschheit musste diese Katastrophe
durchstehen, sie konnte es, sie hatte die Kraft dazu, das war sein
Glaube, und er lebte in seiner Dichtung vor, wie Menschenwürde
und Menschentugend, wie Liebe, Wahrheit, Treue und Lebensmut
in der Schlangengrube, im Feuerofen noch bewahrt werden konnten.

" Wunschbiografie auch deshalb, weil im Gegensatz zu dem
naziverblendeten Jugendlichen Franz aus dem Sudetenland,
der erst im sowjetischen Kriegsgefangenenlager Einsichten in
historische Zusammenhänge gewann, Miklós Radnóti früh ein
Hellsichtiger war. Freilich war in den sechziger Jahren die
Wandlung Fühmanns längst und gründlich vollzogen, war in
den Prosaarbeiten "Kameraden" und "Das Judenauto" literarisch
bewältigt worden, aber etwas anderes war hinzugekommen:
die zunehmende Bedrückung wegen verlogener Kulturpolitik und
Gängelung im Überwachungsstaat DDR.

Bald sollte auch er ins Visier der Sicherheitsorgane kommen,
was sogar zu Überlegungen über eine Einweisung Fühmanns
in eine psychiatrische Anstalt führte. In dieser Situation wurde
ihm Ungarn zum Lichtblick.

Zwar war auch das nicht das gelobte
Land - dieses verschob er zunehmend in die Utopie -, aber hier
fühlte er sich - wie viele DDR-Bürger - freier, fühlte er sich
aufgehoben bei Menschen mit gleicher Wellenlänge, z.B. bei
dem Dichter Gábor Hajnal (auch ihn hat er übertragen), der
Zeilen schrieb wie:

"Die Schatten ungeschriebener Gedichte
umflattern mich, / während ich fremde Verse stille".

In ihnen drückt sich der eigene Kummer Fühmanns aus wie auch die
Identifizierung mit Gleichgesinnten. Die Geschichte habe ihn
dahin gebracht, meinte Hajnal: Bitternis der Erfahrung,
Mittlertum als Kraftquell. So hat es auch Fühmann empfunden.
Darum nahm er die Kernerarbeit auf sich, Verse aus einer völlig
anders gearteten Sprache möglichst getreu dem originalen
Klang, Rhythmus und Inhalt zu übertragen. Und Fühmann
ließ sich nichts durchgehen, er feilte so lange, bis es seinen
hohen Ansprüchen genügte. Stolz war er, wenn er einen
Versfuß entdeckte, der selbst seinen ungarischen Kollegen
entgangen war. In den Briefen an Paul Kárpáti ist eindrucksvoll
nachzulesen, wie er weder sich noch seinen Übersetzer schonte.

Aber noch in anderer Hinsicht war Ungarn sein Sehnsuchtsland.
Ganz abgesehen davon, dass er die dortige Mentalität, das
Essen und vor allem Budapest liebte, wurde ihm hier bewusst,
dass sein Leben eine neuerliche Wandlung brauchte. Sein
Denken radikalisierte sich, er hatte die dauernden Kompromisse
an die Kulturpolitik seines Landes über. Das Ungarnbuch trägt
den bezeichnenden Titel "Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte
des Lebens".

Als er das schrieb, hatte Fühmann, geboren 1922, die Hälfte
des Lebens längst überschritten. Schließlich verfasste Hölderlin
im Alter von fünfunddreißig Jahren sein berühmtes Gedicht,
dessen Schlussverse lauten:

"Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen."

Welch eine Parallele zur damaligen Situation. Für Fühmann hieß
die Schlussfolgerung - und er zitiert in einem anderen Zusammenhang
Rilke -: "Du musst dein Leben ändern." Bei der Rückkehr aus Ungarn,
kurz vor der Grenze zur DDR, überlegt er sich: "Den Standort bestimmen,
deinen Standort; da anfangen, wo es anfängt: bei dir". Hier beginnt das
eigentliche, zweite Leben des Franz Fühmann, in dem er sich vornahm,
die Wahrheit und nichts als die Wahrheit in seinen Werken und
Äußerungen zuzulassen, argwöhnisch und sorgfältig beobachtet
von Kulturfunktionären und der Staatssicherheit, dokumentiert im
"Operativen Vorgang: Filou".

Diese hier angedeuteten Hintergrundgeschichten gehen nicht in
den vorgestellten Briefband ein, sie hätten ihn wohl auch überfordert.
In kurzen Zwischentexten verweist der Adressat auf zeitliche,
weniger auf politische Zusammenhänge. Als Vorspruch ist ein
Zitat aus einem 1969 geschriebenen Brief an die Dichterin Sarah
Kirsch wiedergegeben: "Ansonsten - was wollen Sie denn bei uns
alten Eseln lernen? Wir halten ja schon so brav den Mund und dichten
alle nicht mehr vor, sondern nur noch nach." Das erklärt alles.

So ist dieser Band, gefördert vom Franz Fühmann Freundeskreis
Märkisch Buchholz (Berlin), in der gediegenen zweisprachigen
Ausgabe der Verlage Engelsdorfer (Leipzig) und Argumentum
(Budapest) eine wertvolle Ergänzung zu der Werkausgabe aus
dem Hinstorff Verlag, den Briefausgaben und anderen Sammlungen.

Das Engagement für eine solche Herausgabe, die natürlicherweise
nur einen begrenzten Leserkreis findet, kann nicht hoch genug
eingeschätzt werden. Nicht ganz erklärlich ist, warum Gedichte,
zu denen Fühmann mit Kárpáti in eine umfangreiche Korrespondenz
über Formelemente getreten ist, nicht auch zweisprachig abgedruckt
werden, sondern überflüssigerweise auf beiden Seiten deutsch.
Gerade hier hätte doch der Leser eine interessante Vergleichsmöglichkeit gehabt.

http://www.lyrikwelt.de/rezensionen/briefe-fuehmann-r.htm
Mark Twain sagte einmal:
"Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht."
Forum wechseln
Forum wechseln zu:
-- pForum 1.29a / © Thomas Ehrhardt, 2000-2006 --
analyticstracking.php