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balaton-service.info - Das Forum für Ungarn / Sehenswertes, Kultur, Kneipenführer / K u l t u r / Die Freude über einen Rostfleck
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Blasius
icon01.gif Die Freude über einen Rostfleck - 09.05.2009, 08:10:26

8711 Posts - Magyar Vagyok
Kocsis
Die Freude über einen Rostfleck
Von György Dragomán

Fünf Jahre nach der Osterweiterung der EU: Der Öffnung der Grenzen muss eine Öffnung des Denkens folgen

Frühjahr 2009. Meine Frau fährt mich aus dem ungarischen Szombathely zu einer Lesung nach Österreich. Die Grenze ist verlassen, kein Beamter zu sehen. Auf einem Fensterbrett sehe ich einen Flecken Rost. Plötzlich überkommt mich Freude, schwer zu beschreiben, eine pochende Art unwirklicher Euphorie. Ich will das Auto anhalten, ich will aussteigen, ich will den Rostfleck anfassen. Ich will das Metall krümeln fühlen, die zerfallene Station genau betrachten. Ich will sichergehen, dass der Verfall nicht rückgängig zu machen ist. Ich will sicher sein, dass ich diesen Ort in meinem ganzen Leben nie mehr in seiner ursprünglichen Funktion sehe. Nie mehr. Meine Frau schaut mich an, erst durch ihren irritierten Blick merke ich, dass ich laut vor mich hinmurmle: "Nein, nie mehr, nie mehr."

Ich muss lächeln, denn auf einmal wird mir bewusst, dass dieses Mantra, das ich wie besessen wiederhole, eben jenem "Nie mehr" ähnelt, das so viele Ungarn zwischen den beiden Weltkriegen vor sich hertrugen, aus Widerstand gegen den Verlust ihres Territoriums. Ich bin als Mitglied einer Minderheit in einem solchen Gebiet aufgewachsen, als Ungar in Siebenbürgen, und als Konsequenz lernte ich die Bedeutung von Irredentismus im Alter von vier Jahren. Im Kindergarten durften wir niemals nur mit grünen und roten Buntstiften auf weißes Papier malen, weil diese drei Farben die ungarische Flagge darstellen könnten und du damit deiner gesamten Familie Probleme einbrocken würdest. Oder zumindest glaubten wir das.

Ich wusste ganz genau, was dieses "Nein, nie mehr" bedeutete, und ich durfte es niemals laut sagen. Es nicht einmal denken. Die Grenzen sind gut verschlossen und wir sind in diesen Grenzen eingeschlossen. Und unsere "Nein, nie mehr" treffen auf das Echo ihres "Nein, nie mehr" (oder ihres auf unseres - weil wir ja nie wissen werden, wer angefangen hat), und je öfter wir es wiederholen, umso mehr schließen wir uns ein, denn wenn die Grenzen einmal auch ideologische und kulturelle geworden sind, wird ihr Niederreißen unendlich schwer. Oder sogar unmöglich. Wenn es so weit ist, dann bekommen primitivste Dinge wie Buntstifte einen eigenständigen, bösartigen Symbolwert, und jeder Moment unserer Existenz ist eine politische Tat. Ich erinnere mich, wie das "Wir gegen sie"-Denken in den Achtzigern in Siebenbürgen eskalierte, wie fest es alle politischen Grenzen verschloss. Ich sehe den Rostfleck an und denke über die Emigration nach, über die Tatsache, dass solche Flecken dem Wort die böse Bedeutung abziehen können.

Ich bin ein Emigrant, ich ging im September 1988 nach Ungarn. Ich weiß noch genau, wie traumatisch der Umzug von Marosvásárhely (Târgu Mures, Rumänien) nach Szombathely (Steinemanger, Ungarn) war. Laut Google Earth beläuft sich die Distanz zwischen diesen beiden Städten auf genau 609 Kilometer.

Ich schaue wieder auf den Rostfleck und denke, wie absurd es ist, dass eine so kleine Entfernung sich so weit anfühlen konnte. Der Fleck lässt mich mit aller Kraft glauben wollen, dass wir fünf Jahre nach dem Beitritt zur Europäischen Union wirklich zu Europa gehören - in dem Sinne, dass politische Macht nicht mehr über den Einzelnen herrschen kann. Wo ein Umzug von 600 Kilometern keine Jahre mehr dauert und kein unumkehrbares Trauma bedeutet. Wo du frei entscheiden kannst, dein Heimatland zu verlassen, und wieder zurückzukehren. Wo das "Nein, nie mehr" niemals mehr eine Bedeutung in sich selbst bekommt, wo Ortswechsel nicht für immer sind, sondern etwas Banales. Wo wir, wenigstens für eine Zeit, unserer Vergangenheit entkommen können.

Ich schaue den Rostfleck an, und ich muss lächeln. Über mich selbst, über den bitteren Enthusiasmus, den ich aufzubringen versuche. Weil ich natürlich weiß, dass die Grenze da bleibt, dass sie in einem Herzschlag zurück sein kann. Stacheldraht kann man leicht ausrollen, das müssten wir alle in Europa gut wissen. Wir tragen die Grenzen in uns, und die Frage ist, ob das Öffnen der Grenzen genug ist, um einen ausreichenden Grad des Vergessens zu erreichen.

In gewisser Weise haben wir das schon. Ich weiß noch, wie in den meisten Supermärkten in Österreich speziell auf Ungarisch geschriebene Schilder hingen, die Diebe vor den ernsten Folgen ihrer Tat warnten. Ähnliche Schilder habe ich an der Ostgrenze Ungarns gesehen, auf Rumänisch. Diese Schilder sind jetzt alle weg, ersetzt durch solche, die die ausländischen Kunden begrüßen, nachdem die Geschäftsinhaber die wirtschaftliche Realität offener Grenzen verstanden haben.

Aber es scheint, als seien wir noch immer der Immigranten müde und flüchteten uns in das Bedürfnis, uns selbst einzuschließen, uns selbst gegenüber anderen zu definieren. Es ist einfach zu glauben, dass wenn einmal die Grenzen fallen, andere hereinstürmen, unseren Platz wegnehmen, uns vertreiben. Es ist einfach, sich die anderen vorzustellen als verzweifelte Leute, die einfach nur hereinwollen.

Aber wenn die Grenzen offen sind und die hungrigen Massen gar nicht kommen, dann müssen wir die anderen vergessen und uns selbst im neuen Licht betrachten. Warum haben wir uns überhaupt eingeschlossen? Oder aber warum haben wir es hingenommen, eingeschlossen zu werden? Das sind keine bequemen Fragen, aber sie zu stellen ist unvermeidlich, und wenn wir es nicht tun, könnten wir sehr leicht einer anderen Art der Fremdenfeindlichkeit verfallen, jene anderen innerhalb unserer Grenzen zum Ziel machen, die Immigranten, die bei uns leben, unsere ethnischen Minderheiten. Die Wirtschaftskrise mag da sogar als Beschleuniger dienen. Aber wenn wir das tun, bedeutet das, dass wir unsere neu gewonnene Freiheit aus freiem Willen aufgeben, und wenn das passiert, dann sind nur wir die Schuldigen.

Ich sehe den rostigen Fleck noch einmal an und denke an den alten Spruch von offenen Grenzen und offenen Gedanken. Gegen alle Widerstände denke ich, dass äußere Freiheit auch zu einer inneren Freiheit voll Empathie und Verständnis führt. Der Wagen fährt an, wir passieren die Grenzstation. Im Rückspiegel sieht sie viel massiver aus. Vielleicht war ja gar kein Rost auf dem Fenstersims. Vielleicht habe ich ihn mir nur ausgedacht. Wer weiß. Ich schüttle meinen Kopf und flüstere "Nein, nie mehr".

Der Autor, 1973 in Marosvásárhely (Târgu-Mures)/Siebenbürgen geboren, lebt seit 1988 in Budapest. 2002 erschien sein preisgekrönter erster Roman, "Das Buch der Zerstörung". "Der weiße König" (2005, Suhrkamp) wird zurzeit in 15 Sprachen übersetzt.

http://www.welt.de/die-welt/article3662114/Die-Freude-ueber-einen-Rostfleck.html
Mark Twain sagte einmal:
"Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht."
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