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balaton-service.info - Das Forum für Ungarn / Sehenswertes, Kultur, Kneipenführer / K u l t u r / Ungarische Volkskultur
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Blasius
icon01.gif Ungarische Volkskultur - 11.05.2009, 11:25:22

8711 Posts - Magyar Vagyok
Kocsis
Zwischen Orient und Okzident

Die aus der geographischen Lage und dem historischen Schicksal Ungarns resultierende Tatsache, sich „zwischen Orient und Okzident“ zu befinden, bildet schon seit langem eine wesentliche Komponente des nationalen Selbstverständnisses. Der Gedanke „Wir sind allein“, wie ihn König Béla IV. (13. Jahrhundert) und der ungarische Dichter und Feldherr Miklós Zrínyi (17. Jahrhundert) formulierten, verbunden mit der schmerzlich-stolzen Attitüde, sich als „Bollwerk des Christentums“ zu fühlen, hat jahrhundertelang die tragisch-pessimistische Grundhaltung des ungarischen Volkes und seiner Denker bestimmt.

Später, vor allem in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, wurde diese Erkenntnis durch die damalige offizielle reaktionär-nationalistische Ideologie immer mehr verzerrt, und statt zu nationaler Selbsterkenntnis zu führen, bildete sie die Quelle selbstbetrügerischer Illusionen, die von den tatsächlich zu bewältigenden gesellschaftlichhistorischen Aufgaben ablenkten. All das trug nicht dazu bei, daß diese aus der Stellung zwischen Orient und Okzident resultierenden spezifischen Züge der ungarischen Kultur objektiv, mit wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit erschlossen wurden.

Es bedarf kaum eines Beweises, daß dieser Sachverhalt auch die damalige ungarische Ethnographie beeinflußt hat. Wir wollen uns jedoch nicht von Gefühlsmomenten leiten lassen, sondern anhand von Fakten zusammenfassen, was die Stellung zwischen Orient und Okzident für die Kultur des ungarischen Volkes bedeutet. Hauptaufgabe der ungarischen ethnographischen Forschung ist es, die Komplexität der äußerst verzweigten Volkskultur zu untersuchen und ihre Proportionen, ihre inneren Zusammenhänge und Funktionen möglichst genau darzustellen. Wir bemühen uns darum in der Überzeugung, daß wir gerade durch eine derartige gründliche Untersuchung des ungarischen Volkes zugleich einen guten Beitrag zur Erarbeitung der europäischen Ethnographie leisten können.

Betrachten wir die gesellschaftliche und ökonomische Grundlage, die das Leben des ungarischen Volkes und nicht zuletzt die von ihm geschaffene Ordnung und die Formen der Kultur bestimmte, dann ist auch hier die Stellung zwischen Orient und Okzident bezeichnend. Neuere historische Forschungen sind zu dem Schluß gelangt, daß der ungarische Feudalismus stark von seinen innerasiatischen Vorläufern bestimmt worden ist, auch dann noch, als sich die Ungarn in ihrer neuen Heimat im Karpatenbecken eingerichtet hatten. Ebenso wie bei seiner Entstehung zeigte der ungarische Feudalismus auch in der historischen Entwicklung neben verwandten und parallelen Zügen nicht unbedeutende Abweichungen von der westlichen Entwicklung, und das gleiche gilt unter anderem auch für die aus verschiedenen sozialen Schichten und ethnischen Gruppen hervorgegangenen Leibeigenen und besitzlosen Bauern. Demnach entwickelte sich die ungarische {G-745.} Bauernschaft ähnlich wie die osteuropäische, allerdings in vielen Punkten auch davon abweichend. In der Geschichte der osteuropäischen Bauernschaft sind verschiedene Stufen von Rückständigkeit zu beobachten. Ferenc Erdei (1910–1971) hat diese Rückständigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung der ungarischen Bauernschaft in mehreren Werken untersucht und auch darauf hingewiesen, daß die sogenannte klassische, mündlich überlieferte bäuerliche Kultur nur in dieser rückständigen Gesellschaftsstruktur ihr eigenes Leben behaupten konnte. Neuere historische Analysen kamen auch zu der Erkenntnis, daß die historische Entwicklung der ungarischen Bauernschaft und das gesellschaftliche und ökonomische System, in dem sie lebte, auf die rückständigeren östlichen Typen hinweisen. Das wird bewiesen durch das System der Dienstleistungen, der Steuer- und Frondienstlasten, die sogar nach 1848 weiterbestanden, sodann durch die Rückständigkeit im Schulwesen und die strengen Zwangsverhältnisse, die bis in die jüngste halbfeudale-halbkapitalistische Vergangenheit hineinreichten.

Wenn auch auf unterschiedlicher Stufe, so standen die osteuropäischen Völker doch auf der gleichen Skala der Rückständigkeit; gesellschaftliche Unterdrückung und wirtschaftliche Abhängigkeit waren für sie gleichermaßen typisch. Gleichzeitig können auch die gesellschaftlichen Gruppen benannt werden, die bereits im Zeitalter der Leibeigenschaft Einflüsse verschiedener kultureller Ebenen und verschiedener Völker auf Ungarn übertrugen. Neben den höfischen Spielleuten ist eine ganze Reihe anderer vermittelnder sozialer Schichten und Gruppen bekannt: Studenten, die die Beschwerdebriefe der Leibeigenen schrieben, die wenig zahlreichen Schulmeister und die schreibkundigen armen Bauern; ferner das zur Auswanderung genötigte Gutsgesinde, die zum Militärdienst im in- und Ausland Herangezogenen und vom 18. Jahrhundert an die durch Europa ziehenden Handwerksgesellen, in deren Kreis der Arbeitergesang geboren wurde und durch die die Gedanken und die Lieder der europäischen Arbeiterklasse auch nach Ungarn gelangten. Beeinflussend wirkten außerdem die nach Amerika ausgewanderten und später wieder in die Heimat zurückkehrenden Bauern und Arbeiter mit ihren bitteren Leiden zur See und in fremden Ländern, Erfahrungen, die sie von böhmischen, mährischen, slowakischen, rumänischen und russischen Auswanderern gelernt und mit ihren eigenen verschmolzen hatten. Auch das ist ein Beweis dafür, wie sehr die ungarische Volkskultur in der Lage war, fremde Einflüsse aufzunehmen, zu verarbeiten und sich anzueignen.

Das geschah allerdings nicht auf jedem Gebiet mit gleicher Intensität. Die materielle Kultur, die ökonomische und gesellschaftliche Lage, die von den historischen und geographischen Verhältnissen stärker bestimmt wurde, hat weniger archaische Züge bewahrt als die geistige Kultur. Andererseits haben sich Vermittlung und Übernahme geographisch nicht immer in derselben Weise durchgesetzt, weder beim ungarischen Volk noch bei anderen Völkern.

Dennoch können wir sagen, daß das ungarische Volk im Hinblick auf seine Geschichte und seine Beziehungen zu anderen Völkern ein kulturelles und ethnisches Forschungsgebiet ist, das bei einer erfolgreichen {G-746.} Erforschung der europäischen Ethnographie nicht unberücksichtigt bleiben darf. Immer deutlicher wird, wie sehr János Csaplovics 1829 mit seiner Feststellung: „Ungarn ist Europa im Kleinen“ recht hatte.

Der Gegenstand unserer Untersuchungen: die mündlich überlieferte bäuerliche Kultur, umfaßt die Arbeitsgeräte der ugrischen Fischer ebenso wie ihre Melodieformen, die schamanistischen Glaubensvorstellungen und die Epik ihrer Märchen; sie ist ein Teil des Kontinuums, das nicht wenige Züge der alteuropäischen Kultureinheit und die Merkmale des sich auf diese aufbauenden, immer neuen Kulturerbes sowie auch die selbstgeschaffenen autochthonen Formen und Inhalte bewahrt hat. Wenn wir über die Untersuchungen und Ergebnisse der Ethnographie Ungarns sprechen, dann können wir als erstes darauf hinweisen, daß die bisherigen Forschungen vor allem die strukturellen Komponenten und Proportionen erschlossen haben, die die ethnische Individualität der ungarischen Bauernkultur in ihrer Stellung zwischen Orient und Okzident unter Beweis stellen.

Anthropologische Forschungen haben die rassisch-anthropologischen Komponenten aufgedeckt, die die ungarischen ethnischen Gruppen kennzeichnen. Die Sprachwissenschaft hat bis ins einzelne die in ihrer historischen Entwicklung bewahrte innere Selbständigkeit der ungarischen Sprache und ihre organische Einheit sowie die Reichhaltigkeit der aufgenommenen indoeuropäischen Schichten beleuchtet. Schon allein das Studium seiner Sprache läßt erkennen, daß das ungarische Volk bereit ist, seine Traditionen streng zu wahren und seine innere Selbständigkeit zu erhalten, zugleich aber auch geneigt ist, fremde Einflüsse bereitwillig zu übernehmen und organisch umzugestalten. Mutatis mutandis gilt das zwar auch für andere Völker, doch gerade bei der ungarischen Sprache, die isoliert zwischen Sprachen eines anderen Gefüges lebt, ist dies besonders augenfällig. Und diese Duplizität von traditionsbewahrender Selbständigkeit und bereitwilliger Assimilierung zeigt sich auch auf allen anderen Gebieten der kulturellen Schöpfungen des ungarischen Volkes.

Die Forscher haben die östlichen und westlichen Komponenten in fast allen Bereichen untersucht. Sie haben alle historischen Schichten der Melodienwelt der ungarischen Volkslieder erschlossen, von den ugrischen Klage- und Historienliedern und der primitiven Tonfolge der Kinderlieder bis zu den pentatonischen Melodien und den in dieses Melodiensystem einwirkenden westlichen Einflüssen, über die Gregorianischen Gesänge und die Auswirkungen der feudalen höfischen Musik und Melodik bis zu jüngsten fremden ethnischen Einflüssen. Als Beispiel soll hier nur auf die Probleme der Melodie und der Tanzform des Heiduckentanzes hingewiesen werden, in dem – geradezu unabhängig von der Frage nach seinem Ursprung – nichts anderes als eine gemeinsame Schöpfung des ungarischen Volkes, verschiedener slawischer Völker und des rumänischen Volkes zu sehen ist. Vielleicht sollte man die historischen und ethnographischen Probleme der Heiduckenfrage in den Bereich gemeinsamer bulgarischer, rumänischer, ukrainischer, slowakischer und ungarischer Forschungen einbeziehen? Die organische historische Verflechtung der östlichen und {G-747.} westlichen Kulturschichten zeigt sich aber auch in den Gattungen der Ballade, des Volksmärchens und des Schwankes, wobei oftmals nicht nur durch die Gattung als solche, sondern durch einzelne Balladen und Märchen bewiesen wird, wie Motivelemente aus Jahrtausenden organisch miteinander verbunden sind. Deshalb wird die historische und motivische Zusammengehörigkeit der einzelnen Märchen und Balladen, aber auch anderer epischer Genres erforscht und der Prozeß analysiert, in dem die mündlichen Schöpfungen und die Meisterwerke der dekorativen Volkskunst formal, inhaltlich und ästhetisch zu einheitlichen Werken wurden. So hat zum Beispiel eine vielseitige Analyse des Kossuth-Liedes gezeigt, daß sich sogar im Text eines einzigen kleinen Volksliedes die Tradition mehrerer historischer Epochen in vollkommener Formschönheit zu einer Einheit verbinden kann.

Die Reihe der Beispiele könnte fortgesetzt werden. Auch Viehzucht, Ackerbau, Volksglauben, Volksrhythmen, Bräuche und dramatische Spiele können Merkmale der Stellung zwischen Orient und Okzident tragen und die Verflechtung der historischen Schichten zeigen. Die Hexenprozesse, die Formulierungen bei den Verhören der Angeklagten und die Geständnisse sind aufschlußreiche Kopien westlicher Verhältnisse und zeigen zugleich Verbindungen mit archaischen Glaubensvorstellungen, die das ungarische Volk aus der Vergangenheit mitgebracht hat. Besonders interessant ist, daß die mit den Hexenprozessen verbundenen archaischen Glaubensvorstellungen weiterlebten und sich stärker als die westlichen Verhörformeln erwiesen.

Die Ethnographie erschließt nicht nur die historischen Schichten einzelner Bereiche oder gar einzelner Werke der Volkskultur. Die historische Analyse ist dabei eine wichtige Aufgabe und untrennbar mit der vergleichenden Analyse verbunden. Die Berücksichtigung einiger Gesichtspunkte kann das historische Vergleichssystem aussagekräftiger machen. Ohne auf eine Kritik der vergleichenden historischen Methoden einzugehen, sei nur erwähnt, daß zum Beispiel die stärkere Beachtung der Affinität einen möglichen neuen Weg in der Forschung aufzeigt.

Genauer als bisher werden beispielsweise in der Folklore bei einzelnen Gattungen oder auch einzelnen Werken eines Genres die Proportionen untersucht, die eben für die ethnische Besonderheit eines Volkes kennzeichnend sind. Die ungarische Sprachwissenschaft kann hinsichtlich der Aufdeckung der Proportionen der historischen Schichten schon beachtliche Erfolge verzeichnen. Versuche auf diesem Gebiet unternahmen auch die ungarischen Volksmärchenforscher. Es wurde meinerseits bereits auf die Ambivalenz solcher Versuche und Vergleiche, auf die Disproportionen der Sammlungen und auf die nicht geringen methodologischen Gefahren bei Vergleichen auf diesem Gebiet hingewiesen. Das heißt nicht, daß solche Forschungen zurückgestellt werden sollten. Sie sind so notwendig wie die Erarbeitung von internationalen und nationalen Typen- und Motivkatalogen; zu berücksichtigen sind jedoch auch die Proportionen bei der Zusammensetzung der einzelnen Gattungen und Bereiche des Volksschaffens und die sich aus historischen und ethnischen Komponenten ergebenen Proportionen. Es ist klar, daß diese Proportionsvergleiche, Tabellen und stratigraphischen Statistiken lückenhaft sind und von einem Jahrzehnt zum anderen anhand der Ergebnisse neuerer Sammlungen und Analysen korrigiert werden müssen; aber das ist bei den Märchenkatalogen und bei großen Lexika zum Wortschatz der Sprachen genauso.

Wenn eine Zusammenfassung der europäischen Ethnographie aufgrund von objektiven Fakten und Vergleichen einmal tatsächlich erarbeitet werden soll, kann dies eben nicht anders geschehen, als daß die historischen und ethnischen Proportionen der organisch oder äußerlich miteinander verflochtenen Elemente nach Nationen, ethnischen Einheiten, Gattungen und Objektgruppen untersucht werden. Dabei kann man auch eine andere Gesetzmäßigkeit, ein anderes System der Affinität erkennen, das deutlich macht, wie stark die einzelnen Völker und ethnischen Einheiten traditionelle Formen und Inhalte bewahren, welche formalen Lösungen und inhaltlichen Ausdrucksmöglichkeiten sie besonders verwenden, von welcher ethnischen Gruppe, welchem Nachbar- oder auch entfernterem Volk sie bevorzugt Werktypen und Gestaltungsformen übernehmen, von welchen Völkern sie sich eher isolieren oder nur oberflächliche Kontakte unterhalten. Es wird klar, welche historische Periode den größten und beständigsten Einfluß auf einzelne Völker ausgeübt hat, wo sich ein Bruch in der Entwicklung zeigt, welche Elemente in Vergessenheit geraten, welche Gattungen, Themengruppen und Formen verdrängt worden und aus der praktischen kulturellen Reproduktion verschwunden sind. Analysen und Vergleiche der Proportionen geben eine festere Grundlage für die Erfassung der einzelnen Typen und Motive, der formalen Kennzeichen, die sich so leichter mit ethnischen und nationalen Gruppen verbinden lassen.

Die Darlegung dieser Proportionen trägt auch dazu bei, verständlich zu machen, inwieweit die einzelnen ethnischen Einheiten, ein Volk und eine Nation, ihren selbständigen inneren Stil bewahren konnten oder inwieweit sie ihre Kultur entsprechend ihrer jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Entwicklungsstufe organisch oder formal aufgebaut haben und welches die typischen Merkmale und schöpferischen Methoden ihrer Kultur sind. Heute werden auch von der vergleichenden Literaturgeschichte und der kulturhistorischen Forschung immer mehr die Fehler der alten vergleichenden Methoden erkannt. Man hat sich zu sehr darauf konzentriert, die übernommenen Effekte, die fremden Elemente und Motive in den einzelnen Schöpfungen, den Objekten, Institutionen und Gattungen zu untersuchen, sie wie ein von außen eindringendes fremdes Element zu betrachten. Versäumt wurde es, die Weitergabe und Übernahme selbst als Prozeß eingehend zu verfolgen, als ein Prozeß, der nicht weniger als das Ergebnis von Bedeutung ist. Nach einer überholten, alten Theorie der ungarischen Kulturgeschichte sind alle bedeutenden Werke der ungarischen Kultur über Wien, das heißt vom Westen, ins Land gekommen. Diese Auffassung maß nur der einseitigen Übernahme Bedeutung zu. Heute dagegen zieht keiner mehr in Zweifel, daß zwischen zusammen lebenden oder benachbarten Völkern eine ihrer Kulturstufe entsprechende Wechselwirkung besteht.

In diesem Zusammenhang soll hier auf einige weitere Fakten hingewiesen werden. Ein Blick zurück beweist, daß sich schon die Kultur der Ungarn in der Zeit vor der Landnahme aus mehreren Schichten zusammensetzte. In späteren Zeiten kamen Einflüsse von Europa gleichfalls nicht nur auf dem einen westlichen Wege nach Ungarn. Denken wir an die byzantinischen Elemente, an die Einflüsse der im Karpatenbecken lebenden Awaren, an die fortwirkenden slawischen Traditionen; hinzu kamen unter den Arpadenkönigen italienische, französische und deutsche Einflüsse – bei weiterem Bestand der finnougrischen Basis – sodann die wieder auflebenden Turkelemente und später die osmanisch-türkischen Einflüsse – um nur einige der bedeutendsten Gruppen zu nennen.

Auf allgemein bekannte Fakten soll nur kurz eingegangen werden. Hinlänglich bekannt ist, daß geographische Faktoren zur Belebung von Kontakten beitragen, daß also die Bergkette der Karpaten die spezifischen Wirtschafts- und Kulturformen sowie Beziehungen der hier lebenden Völker bestimmte und daß auch das Wassersystem der Donau – teilweise auch das der Theiß – eine geographisch-ökonomische Voraussetzung für ein kompliziertes System von Beziehungen war. Desgleichen erübrigt sich eine eingehende Darlegung, inwieweit europäische Migrationsprozesse und solche, die sich durch die ganze Geschichte der ungarischen Nation ziehen, zur Vielfalt der ungarischen ethnischen Landkarte, zum wechselvollen Bild und zur Einheit der Geschichte beigetragen haben.

All das gehört zu den Grundfaktoren der kulturschaffenden Prozesse. Neben der Berücksichtigung der Basiselemente haben die Ethnographen aber vor allem die Aufgabe, im Prozeß der Weitergabe und Übernahme die Assimilationsprozesse und den Grad von Assimilationen zu untersuchen, das heißt, die Ergebnisse genauso wie die Abweichungen herauszustellen, denn ihnen gebührt die gleiche Bedeutung wie der Wirkung an sich. Als wir vom Verhältnis der fremden oder assimilierten Elemente in den Kulturzeugnissen gesprochen haben, dachten wir auch an die mit diesem Thema verbundenen Probleme.

Bei der Untersuchung der Volksmusik der Ungarn und ihrer Nachbarvölker hat Béla Bartók ein methodologisches Prinzip von entscheidender Bedeutung in die vergleichenden Forschungen eingeführt. Dieses Prinzip sollte von allen Zweigen ethnographischer Forschung übernommen werden, denn nur so werden die Vergleiche real und können die schöpferischen Prozesse in ihrer Gesamtheit beobachtet werden. Béla Bartók hat nicht nur ermittelt, welche Elemente und Melodieformen die ungarische Volksmusik übernommen und in ihr System eingefügt hat, sondern auch die Stufen der Assimilation beobachtet. Interessant ist, festzustellen, von welchem Nachbarvolk die Ungarn Elemente übernommen haben und welche Formen keinen Einfluß auf ihre Volksmusik hatten; welche formalen Elemente es sind, die in der ungarischen Melodienwelt konsequent fehlen, obwohl alle historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen eine Beeinflussung ermöglicht hätten. Wir sind bemüht, dieses Forschungsprinzip von fundamentaler Bedeutung auf den verschiedenen Gebieten der Ethnographie anzuwenden.

Neben anderen europäischen Volkskulturen eignet sich besonders die ungarische für derartige Untersuchungen, denn die Ungarn haben die traditionellen Formen ihres ethnischen Charakters trotz vielfältiger Einwirkungen während ihrer Wanderungen und nach ihrer Niederlassung im Karpatenbecken zäh bewahren und die neuen Einflüsse organisch in die Formen und Inhalte ihrer Kultur einbauen können. Die ungarischen Forscher beschränken sich immer weniger auf die Untersuchung der empfangenen Einflüsse und suchen in ihren Analysen vielmehr nachzuweisen, daß die Ungarn zwischen Orient und Okzident nicht nur Empfänger, sondern auch Vermittler und Schöpfer waren. Lehrreich sind die Untersuchungen, die die ungarischen Erscheinungsformen der allgemein bekannten Typen des westlichen Märchengutes beziehungsweise ihr völliges oder fast völliges Fehlen in den ungarischen Märchen ermittelt haben. Es gibt ungarische Volksmärchen, die fast als spiegelbildgetreue Wiedergaben europäischer oder europäisch gewordener Varianten angesehen werden können; andererseits gibt es aber auch europäische Märchen, die unter den von ungarischen Bauern überlieferten nicht vorkommen. Zwar gelangten zum Beispiel die Grimmschen Märchen in großen Auflagen, Schulbüchern und billigen Broschüren ins Land, und auch die lese- und schreibunkundigen Bauern erhielten von ihnen Kenntnis, doch eine allgemeine Übernahme fand trotzdem nicht statt.

Bartók erwähnt deutsche Melodietypen, die nur über böhmisch-mährische Vermittlung zu den Ungarn kamen. Einige Elemente des ungarischen Volksglaubens können bis zu den ugrischen Zeiten zurückverfolgt werden, daneben gibt es solche, die im Mittelalter übernommen und assimiliert wurden, während andere überhaupt keinen Anklang fanden.

Die gesellschaftliche Struktur der ungarischen Bauernschaft zeigt im Vergleich zu der der westlichen eine abweichende, verspätete Entwicklung, nicht zuletzt darum, weil an dieser ungarischen Umschlagstelle zwischen Orient und Okzident die kulturelle Vermittlung, Neuschöpfung und Umgestaltung ständig aktiv war. Westliche Forscher überraschte es besonders in den letzten Jahrzehnten, welche Lebendigkeit und welchen schöpferischen Reichtum diese mündlich überlieferte Kultur zum Beispiel in der Reproduktion der Märchenerzähler in Ungarn besaß zu einer Zeit, als die westliche Forschung solches anderswo nicht mehr feststellen konnte. Hier und da stößt der Forscher auch heute noch in Ungarn auf hervorragende Märchenerzähler und Schöpfer neuer Märchen. Diese durch die verspätete Entwicklung bedingte Situation der mündlichen Überlieferung gehört zu den ethnischen Eigenheiten der zwischen Orient und Okzident gelagerten Ungarn.

Während die Dichter, Geschichtsphilosophen und Politiker aus dem Adel und dem Bürgertum die Stellung zwischen Orient und Okzident als eine ungarische Tragödie, als eine Quelle der Isolation empfanden, betrachtet die ethnographische Forschung die Vergangenheit Ungarns heute keineswegs mehr unter diesem Aspekt. Sie vergißt zwar nicht die tragischen historischen Ereignisse, stellt aber zugleich fest, daß diese auf ihr Spezialgebiet keinen Einfluß hatten. Die vergleichende Forschung sieht in der historischen und gesellschaftlichen Lage Ungarns eher einen äußerst fruchtbaren Entwicklungsfaktor.

Sie betrachtet das ungarische Volk im großen eurasischen Raum und speziell in Europa als ein ethnisch sehr sensibles Zentrum, das bei der Aufnahme und Ausstrahlung gemeinsamer europäischer Traditionen in jedem Fall eine interessante Station der Gestaltung und Formung darstellt.

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Mark Twain sagte einmal:
"Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht."
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