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balaton-service.info - Das Forum für Ungarn / A k t u e l l e s / Was man gerade erfahren hatt / Macht und Menschen
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Markus J. Marschner
icon01.gif Macht und Menschen - 28.10.2007, 13:58:26
Skype: markusmarschner
2385 Posts - Magyar Vagyok
carpe diem
Macht und Menschen
Neue Kinder- und Jugendbücher zu politischen Themen
Von Karin Hahn
Im Urlaub auf dem Balaton trifft die 16-jährige Ramona aus der DDR ihre erste große Liebe: Jürgen kommt aus Nürnberg. Sie hat sich in einen Klassenfeind verliebt, und damit beginnen Ramonas Probleme. Wie eng vorherrschende Politik mit dem Schicksal jedes Einzelnen verknüpft sein kann, erzählen fünf Kinderbücher. Die Neuerscheinungen lassen die Leser am Leben in der DDR, der Tschechoslowakei und China teilhaben.


50 Hertz gegen Stalin
Kinder und Jugendliche kennen die DDR nur vom Hörensagen und auch im Schulunterricht dominieren eher die Geschichtsdaten der Bundesrepublik Deutschland. Weder im ehemaligen Osten noch im ehemaligen Westen wird die Deutsche Demokratische Republik von Jugendlichen als ein wesentlicher Teil der deutschen Geschichte wahrgenommen. Für die "mauerfreie" Generation ist das getrennte Deutschland, nach nicht mal 17 Jahren, kaum mehr vorstellbar. Die Berliner Autoren Steffen Lüddemann und Barbara Bollwahn, beide in der DDR geboren, schreiben zeitlich aus unterschiedlichen Perspektiven über das fast vergessene Land. Barbara Bollwahns Motivation sich zu erinnern resultiert aus einem Zwiespalt - zum einen sind da die eigenen Erfahrungen, und zum anderen ihre gegenwärtigen Beobachtungen.

"Es gibt einfach immer noch viele große Unterschiede zwischen Osten und Westen und die Wahrnehmung ist zum Teil eine ganz verzerrte. Es wird eine Art Schwarz-Weiß-Malerei betrieben, entweder wird es reduziert auf das Thema Staatssicherheit und dann wird es eben ausschließlich verteufelt und damit dann gesagt, es war alles schlecht oder es findet auf der anderen Seite ein anderes Extrem statt, dass die Leute anfangen, die DDR zu verklären."

Steffen Lüddemann hat sich dem Thema aus anderen Beweggründen angenähert.

"Es ist eine ziemlich unentdeckte Zeit, die Jahre zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Gründung der beiden deutschen Staaten. Es ist eine Geschichte, die mich fasziniert, weil sie sehr tragisch ist und weil sie einzigartig ist. Es ist ein singuläres Ereignis auch in der Geschichte des DDR-Widerstands. Dass da Jugendliche hingehen und einen Radiosender bauen und sogar eine eigene Radiosendung fahren. Und es spielt in einer Zeit, die noch nicht fest gefügt zu sein scheint und wo den Jungs auch noch nicht klar war, wohin das geht."

Einer dieser Jugendlichen war Joachim Näther - ein junger Dichter, dessen Liederzyklus von Hans Christian Bartel, einem ehemaligen Mitschüler, vertont wurde. Die Verse und das kurze Leben des Joachim Näther, der mit 20 Jahren in Moskau erschossen wurde, weckten das Interesse von Steffen Lüddemann. Er recherchierte und führte Interviews mit Zeitzeugen. Ein Funk-Feature und eine Fernseh-Dokumentation entstehen. Doch das tragische Schicksal Joachims lässt den Autor einfach nicht los. In seinem Jugendroman "50 Hertz gegen Stalin" versucht er sich von der umfangreichen Materialfülle und den durchaus komplexen, historischen Geschehnissen zu befreien, um mit dem Stoff fiktiv umzugehen.

Altenburg, Thüringen, 1949: Joachim, Jürgen, Klaus und Gerd gehen wieder in die Schule. Besonders Joachim quälen die Kriegserinnerungen, seine Zeit beim Volkssturm. Er kann das falsche Pathos der neuen Machthaber in der sowjetischen Besatzungszone nicht ertragen, nicht fassen, dass sein autoritärer Vater einfach nur die Uniform wechselt. Die vier jungen Männer wollen nicht wieder im Gleichschritt laufen und sich erneut vor den Karren eines totalitären Systems spannen lassen. Joachim provoziert seine Lehrer mit politischen Thesen. Er will endlich die Freiheit haben, vieles in Frage zu stellen.

"Es ist eine tragische Geschichte von jungen Leuten, denen die Autoritäten abhanden gekommen sind. Die also im Dritten Reich groß geworden sind, merken mussten, es ist das verbrecherischste System überhaupt gewesen, denen Eltern als auch Lehrer obsolet geworden waren, das waren für sie keine Autoritäten mehr, und die nun versuchen mussten, sich eigene Ideale, eigene Vorstellungen zu entwickeln. Sie sind sehr idealistisch gestartet und sind dann zwischen den Fronten des Kalten Krieges zerrieben worden. Sie hatten sich dann nach Westberlin gewandt an diese Gruppe gegen Unmenschlichkeit, bei der sie nicht wissen konnten, dass sie vom CIA und sämtlichen anderen Geheimdiensten unterwandert war, und die natürlich diese Jungs als Märtyrer gebraucht haben, die einfach losgeschickt haben. Denn diese Leute dort wussten durchaus, im Gegensatz zu den Schülern selbst, was passiert, wenn die verhaftet werden."

"'Bei uns in der Schule wird viel von der 'Weißen Rose' in München erzählt', sagt Klaus, 'so was wollen wir auch machen. Die Leute aufklären, die Wahrheit sagen. Wobei uns wichtig ist: Keine Spionage, keine Sabotage, nichts mit Geheimdiensten. Damit wollen wir nichts zu tun haben.' - 'Ihr wisst, dass das trotzdem nicht ungefährlich ist?' - 'Sicher', sagt Klaus. 'Aber wir woll'n uns nicht später Vorwürfen ausgesetzt sehen, geschwiegen zu haben. So wie unsere Eltern im Hitlerreich. Die einfach mitgemacht haben.' Große Worte: Jürgen ist ein bisschen unwohl."

In dem Glauben, die Todesstrafe sei abgeschafft, wagen die vier jungen Männer ihren Aufstand gegen das neue DDR-Regime und den Personenkult der sowjetischen Übermacht. Gerd baut mit technischem Geschick einen einfachen Sender: Am 70. Geburtstag Josef Stalins, kurz nach Gründung der DDR, stört Joachim mit seiner Gegenrede die jubelnde Radioansprache Wilhelm Piecks. Drei Monate später werden fast alle Beteiligten inhaftiert. Das Urteil des sowjetischen Militärgerichtes unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Verteidiger lautet zehn bis 25 Jahre Arbeitslager für die oppositionellen Freunde. Für Joachim gibt es keine Gnade, ihn trifft die volle Härte der Staatsmacht - Tod durch Erschießen. Viele Szenen hat Steffen Lüddemann frei erfunden, doch einige sind auch historisch belegt.

"Nachdem die Urteilsverkündung abgeschlossen war, fing einer an zu lachen. Die anderen stimmten ein und sie haben minutenlang wie wahnsinnig gelacht. Die Richter und auch die Soldaten haben sie nicht unterbrochen. Es ist so einer Art Befreiung gewesen und es ist auch eine Spur Irrsinn darin gewesen, weil sie immer noch dachten, das sei absurdes Theater gewesen, weil sie ja davon ausgegangen sind, es gibt keine Todesstrafe mehr."

War es jugendlicher Leichtsinn, Naivität, die tiefe pazifistische Überzeugung, gegen eine neue Diktatur die Stimme erheben zu müssen? Steffen Lüddemanns Erzähltempo hält mit den schnellen Entscheidungen seiner wachen Helden mit. Wie ein Stein, der ins Rollen kommt, können sie nicht mehr stoppen und wollen es auch gar nicht.

"Es war sicher auch Abenteuerlust. Dieser Joachim, der so einen Lebenshunger hatte, machen wir uns nichts vor, das hatte auch was, dass sie nach Westberlin gegangen sind, mit dem CIA zu tun hatten. Sicher ist es eine Melange von Idealen, die sie hatten und natürlich auch Abenteuerlust. Und dass sie sich der Gefahren nicht prinzipiell bewusst waren, ist sicher so. Sie hatten immer gesagt, also 25 Jahre kriegen wir sowieso - alles ist vergänglich auch lebenslänglich."

Drängen sich in Steffen Lüddemanns Debütroman an manchen Stellen die Konstruktionen zu sehr in den Vordergrund, sind die Schnitte mitunter zu unvermittelt, so schreibt der Autor doch atmosphärisch dicht und mit stiller Empathie für seine Hauptfigur Joachim, die er bis zum letzten Augenblick begleitet. Eine Frage bleibt der Autor dem interessierten Leser mit oder ohne Vorwissen dann aber schuldig: Wie konnte es zu diesen gezielten Verhaftungen scheinbar aus dem blauen Himmel heraus kommen? Woher wusste die Staatssicherheit von jedem Schritt der Oppositionellen?



Der Klassenfeind + ich
Ein selbstbestimmtes, freies Leben möchte auch Ramona Montag in dem realistischen Tagebuchroman "Der Klassenfeind + ich" von Barbara Bollwahn führen. Die Journalistin weiß wovon sie schreibt, denn sie hat 26 Jahre in der DDR gelebt.

"Die Geschichte selber ist mehr als realistisch, das heißt ungefähr 95 Prozent von dem was die Protagonistin im Roman erlebt, habe ich selber auch erlebt, ich bin mit 17 nach Ungarn gefahren und habe den Jürgen, den Klassenfeind am Balaton kennengelernt. Erfunden ist nur das Elternhaus der Ramona, da hab ich nicht mein eignes Elternhaus genommen, weil das war viel zu liberal, das heißt meine Eltern waren beide nicht in der Partei, und da hab ich mir ein passendes Elternhaus ausgesucht."

Von 1984, da ist Ramona 16, bis in die Wendezeit hinein, vertraut sie ihrem "lieben" Tagebuch alles an, womit Jugendliche sich heute identifizieren können: emotionale Höhenflüge und Abstürze in die Pubertät, obligatorische Streitgespräche mit den Eltern, Schulprobleme, erste Liebeleien, Konflikte mit der Freundin oder Ungerechtigkeiten. Was hinter den Begriffen Pfeffi, Schwalbe, Spartakiade oder Puhdys steckt, erschließt sich in Ramonas Aufzeichnungen.

"Papi ist in der Partei und erklärt alles immer mit irgendwelchen gesellschaftlichen Notwendigkeiten und dass im Kommunismus alles besser wird. Ralf ist erst zehn und glaubt noch daran. Als ich so alt war, habe ich auch noch geglaubt, dass wir bald im in einem Paradies leben. Im Kommunismus, der Gesellschaft, in der es kein Geld mehr gibt, weil das Bewusstsein der Menschen so entwickelt sein wird, dass sich jeder in den Geschäften nur nimmt, was er braucht."

"Ramona ist ein Mädchen, die in einem Elternhaus aufwächst mit sehr unterschiedlichen Eltern. Der Vater ist also ein überzeugter Genosse und Kombinatsdirektor. Die Mutter ist viel pragmatischer und nicht in der Partei und die Tochter wächst also auf inmitten der Konflikte, die es zwischen den Eltern gibt, und versucht, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Sie ist schon für normale DDR-Verhältnisse relativ eigenständig, das heißt sie plappert nicht nur irgendwelche Parolen nach und stellt unheimlich viele Sachen in Frage und eckt damit natürlich ziemlich viel an, sei es zu Hause oder in der Schule. Sie ist sehr neugierig und sie will sich mit vielen Sachen einfach nicht so abfinden."

"Am Nachmittag haben wir dann ausgerechnet auch noch Wehrkundeunterricht. Ich finde das total bescheuert. Da zieht sich der Chemielehrer eine Uniform in Tarnfarben an und erklärt uns, wie wir uns verhalten sollen, wenn die Atombombe fällt. Als ob man das überleben könnte! Erst hat er uns ein Bild von einem riesigen Atompilz gezeigt, das einem angst und bange wurde. Und dann erzählte er uns, wir bräuchten nur feuchte Sandsäcke vor Türen und Fenster zu stellen, um uns in Sicherheit zu bringen. Da frage ich mich, wieso wir die Mauer brauchen, um uns vor dem Klassenfeind zu schützen, wenn ein paar Sandsäcke es auch tun könnten."

Als Ramona sich dann zum ersten Mal im Ungarn-Urlaub so richtig verliebt, vergeht ihr die Ironie. Für den staatlich verordneten Sozialismus empfindet sie nur noch ohnmächtige Wut, denn Jürgen kommt aus Nürnberg.

"Ich zerbreche mir ständig den Kopf darüber, warum ich in der DDR und er in der BRD geboren ist. Natürlich finde ich darauf keine Antwort. Ich weiß nur, dass mir der Scheiß, den wir immer in der Schule hören von wegen Sozialismus und Kapitalismus und wer das bessere System hat, noch nie so unerträglich erschien wie jetzt. Warum darf ich nicht reisen, verdammt! Das ist doch nicht zu viel verlangt!"

Das Gefühl, in der DDR verbarrikadiert zu sein, verstärkt sich noch als Jürgens Mutter den brieflichen Kontakt der beiden Liebenden schneller als die Stasi stoppt. Durch die persönliche Erzählperspektive ist der Leser sehr nah an Ramonas Geschichte und den Konflikten, die aus ihr resultieren. Barbara Bollwahn erzählt mit frecher Leichtigkeit. Ihr Tagebuch ist ein Ventil für all den angestauten Frust. Aber Ramona gibt nicht klein bei, sie setzt sich, trotz einiger Rückschläge, erfolgreich über starre, sozialistische Regeln hinweg. Dabei ist ganz klar, dass Barbara Bollwahns Figur nicht von gestern sein soll.

"Ich glaube schon, dass es so Mädchen wie die Ramona heute auch gibt, sowohl im Osten als auch im Westen, das heißt, die nicht einfach alles so hinnehmen und das eine oder andere hinterfragen. Aber manchmal vermisse ich doch mehr Eigeninitiative, es gibt auch viele Jugendliche, die sind nicht neugierig genug."

Als die Mauer dann fällt, stellt Ramona schnell fest, dass sie auch im Westen auf Grenzen stoßen wird. Seine Geschichte kann man nicht verlieren oder verlassen. Barbara Bollwahn will das auch gar nicht. Ihr geht es um eine realistische Innenansicht der DDR, nicht unter dem Motto: Alles war doch gar nicht so schlecht, sondern, so war es wirklich.



Die Mauer
Die Wendezeit ist ein aufregendes Thema, über das viel geschrieben wird. Doch wer weiß noch genau, wie es war, bevor sich die dichteste Grenze Europas öffnete?

Seine Kindheit und Jugend hinter dem Eisernen Vorhang verarbeitet der tschechische Künstler Peter Sís in seinem unkonventionellen, großflächigen Textbilderbuch "Die Mauer". Vor 58 Jahren in Brünn geboren, verbindet Sís seine Biographie mit der sozialistischen Entwicklung der Tschechoslowakei. Mit lakonischen Erklärungen am Rand reiht er chronologisch Szene an Szene - seine Erfahrungen als junger Pionier, schulische Bevormundungen, die allgegenwärtige militärische Übermacht der Sowjetunion, aber auch die Skepsis der Eltern dem System gegenüber und die Entdeckung verbotener Bücher. Seine nüchterne Schwarzweißwelt wird ab und zu durch eigene farbige Zeichnungen unterbrochen oder von rot glühenden Symbolen überblendet. In einer einfachen Bildsprache wird verdeutlicht, wie eng das öffentliche Leben mit dem Privaten verbunden war und doch die Chance bestand, sich der Parteiideologie zu entziehen. Als Archäologe der Erinnerung illustriert Sís seine Vita mit ironischer Distanz im Comicstil. Leichthändig spielt er dabei mit Realität und Fantasie. Bereits als Baby hantiert Sís im Kinderwagen eifrig mit dem Zeichenstift - und den Spitzeln des Geheimdienstes malt er Schweinerüssel ins Gesicht.

"Zuhause malte er, was er wollte. In der Schule musste er malen, was die Lehrer wollten. Er zeichnete Panzer. Er zeichnete Kriege. So langsam begann er zu zweifeln. Er malte, was er malen wollte - aber heimlich."

Immer wichtiger wird die Suche nach Freiräumen. Das Malen und die Musik der Beatles erweitern seinen Blickwinkel. Die entscheidenden Umbruchzeiten in seinem Leben dokumentiert Peter Sís auf jeweils einer farbigen Doppelseite. Um seine persönlichen Eintragungen herum inszeniert er eigene Fotos, Zeichnungen und Bildmaterial.

"Februar 1957 - Wir waren im Skiurlaub in den Bergen an der westlichen Grenze. Soldaten mit Hunden suchten in unserem Zug nach 'staatsfeindlichen Elementen', die abhauen wollten. Die Soldaten kontrollierten unser Gepäck und forderten uns auf, Verdächtige zu melden. Als wir ausstiegen, waren zwei paar Paar Skier zu viel und drei Reisende fehlten! Mai 1968 - Die Zensur wird aufgehoben! Wir dürfen lange Haare und Jeans tragen! Dafür wurde die Schülerzeitung eingestellt. Der Direktor klagt über anarchistische Zustände. 1972 - Die Grenze ist wieder geschlossen, Reisen unmöglich. Goodbye, swinging London!"

Peter Sís verdichtet in seinen Grafiken die Zeiten der Unterdrückung. Doch in dem Moment, wo sich ein Stück Freiheit öffnet, überrascht er den Betrachter mit seinen leuchtenden Aquarellbildern. In den Zeichnungen zum Prager Frühling drehen sich die Menschen nicht mehr im Kreis, denn es gibt plötzlich einen Richtungswechsel, weit fort von Zensur und Reisebeschränkungen. Doch schnell klappt die Falle wieder zu und der Kreis wird von Panzern umstellt. Sís malt am Ende wie ein Traumtänzer von seinen Hoffnungen auf ein freies Leben. Peter Sís Bilderbuch ist, auch wenn es von Kindheit erzählt, nicht kinderleicht. Es ist ein zeithistorisches, sehr ungewöhnliches und wichtiges Erinnerungsbuch.



Ina aus China
Der chinesische Maler und Illustrator Ange Zhang schloss seine Ausbildung 1982 ab und arbeitete als Bühnenbildner an der Staatsoper von Beijing. Heute lebt er als erfolgreicher Künstler in Kanada. In seinem Erinnerungsbuch "Rotes Land Gelber Fluss - Eine Geschichte aus der chinesischen Kulturrevolution" verknüpft er geschickt historische Ereignisse mit persönlichen Erinnerungen. Steht bei Peter Sís die Zeichnung mehr im Vordergrund, so ermöglichen Ange Zhangs Bilder, die aussehen wie in Öl gemalt, obwohl sie am Computer entstanden sind, einen weiteren Zugang zu seiner Erzählung.

"1966 war ich dreizehn Jahre alt und lebte mit meiner Familie im Zentrum von Beijing. Wie viele alte chinesische Häuser so war auch unseres um einen quadratischen Innenhof herum gebaut. In der Mitte des Innenhofes hatten wir einen kleinen Garten, in dem wir Sonnenblumen, Gurken, Kohl und grüne Bohnen anpflanzten."

Am Beginn der Geschichte lacht die Familie Zhang auf dem Foto den Betrachter unbeschwert an und in warmen Farben zeichnet der Künstler den friedlichen Innenhof. Doch wenige Monate später endet Anges Kindheit. Die Kulturrevolution überrollt das Land. Um die Lehren des großen Vorsitzenden Mao und seine Machtansprüche zu sichern, werden die Kinder in den Roten Garden als Soldaten rekrutiert. Mit revolutionären Phrasen indoktriniert, jagt man sie aufeinander los. Ange gehört plötzlich mit seiner Familie, der Vater ist ein bekannter Dichter, nicht mehr zu den Stützen der Gesellschaft. Als Intellektuelle zählen sie zum Abschaum. Die Welt steht Kopf. Die blindwütige Euphorie der Menschen zieht den Jungen wie magisch an und in der Masse erhebt das Kind sogar die Stimme gegen seinen eigenen Vater. Erste Zweifel löst ein brutaler Angriff einer Gruppe Rotgardisten aus.

"Der Schlag, der mich getroffen hatte, brachte mich zur Besinnung; ich begann darüber nachzudenken, was mit meinem Land, meiner Familie geschah. Warum wurde mein Vater bestraft? Warum hassten Menschen einander, warum kämpften sie gegeneinander? Wie sollte es mit meinem Land weitergehen? Niemand konnte mir das sagen."

Ange Zhang erzählt in einer sachlich klaren Sprache. Seine individuelle Entwicklungsgeschichte umfasst nicht nur die äußerlichen Ereignisse, sondern auch seine Gefühls- und Gedankenwelt. Die Staatsmacht schickt die Kinder und Jugendlichen, getrennt von ihren Familien, auf die Dörfer. An seinem körperlich harten, ziellosen Dasein zerbricht der Junge nicht, denn sein Freund Zhu öffnet für ihn eines Tages einen Holzkasten mit Ölfarben - ein verbotener Schatz, der Ange Zhang retten wird. In den dominanten Farben Rot, Gelb und Schwarz gibt der Künstler dem erlebten Grauen ein Gesicht. In seiner Erzählung bleibt er der Chronist eines Zeitabschnittes, über den, wenn überhaupt, in China nur hinter verschlossenen Türen debattiert wird.



Rotes Land Gelber Fluss
Und noch einmal Asien als Schauplatz: Während ihres Aufenthaltes in Taiwan lernt die Sinologin Susanne Hornfeck eine alte Dame kennen, die ein makelloses Deutsch spricht. In ihrem ersten Kinderbuch "Ina aus China oder was hat schon Platz in einem Koffer" verarbeitet die bekannte Übersetzerin fiktiv die ungewöhnliche Kindheit dieser chinesischen Frau.

"Hier ist Ina wieder Yinna, das Silbermädchen. Manchmal wird ihr ganz schwindlig, wenn sie sich fragt, wer sie denn nun eigentlich ist. Eine deutsche Ina mit chinesischem Gesicht, eine chinesische Yinna, die deutsch denkt?"

Ina wird durch die unterschiedlichen politischen Ereignisse zum Spielball zwischen den Systemen. Ausgerechnet 1937, da ist das Mädchen sieben Jahre alt, beginnt ihre Odyssee über den Globus. Vom pulsierenden, lauten Schanghai führt sie die Reise ins wohlgeordnete, farblose, deutsche Brandenburg an der Havel. Die streng wirkende Offizierswitwe Frau von Steinitz umsorgt das chinesische Kind in der Fremde. Wie ein Korsett aus Sprachlosigkeit, Regeln und Pünktlichkeit erscheint der exotischen Außenseiterin die neue Welt. Immer den Bohnerwachsgeruch in der Nase, erlernt das Mädchen die deutsche Sprache, gewinnt Vertrauen zu ihrer "Muma" und findet sich trotz quälender Erinnerungen an Zuhause bald erstaunlich gut zurecht. Susanne Hornfeck kann mit ihrer Protagonistin von außen auf die politischen Ereignisse in Nazideutschland schauen. Ina freundet sich mit dem burschikosen Hitlermädchen Lotte an, erlebt die erzwungene Ausreise ihrer jüdischen Freundin Inge nach Schanghai, registriert das Schweigen von Frau von Steinitz zu allen politischen Fragen und muss erneut Abschied nehmen, denn wieder vertreibt sie ein Krieg.

Nächste Station - die ungeliebte Schweiz. 1955 kehrt Ina nach Asien zurück. Auch hier kann sie nicht mehr in die Heimatstadt Schanghai zurückkehren, sondern lebt in Taipeh. Ein kompaktes Wissen ist notwendig, um all die Zusammenhänge und den weiten Erzählbogen zu fassen: vom Boxeraufstand 1900, der erst die Verkettung zwischen Inas Familie und der Familie von Steinitz erklärt, über die politischen Verhältnisse in Nazideutschland bis hin zu den gesellschaftlichen Veränderungen im China der fünfziger Jahre. Susanne Hornfeck fühlt sich zwar in ihre Ina ein, dringt aber nicht in ihre Innenwelt vor und so bleibt die Entwicklungsgeschichte der Figur auf der Strecke. Die Zeittafel am Ende des Buches befreit die Prosa nicht von der Qual der Informationspflicht, die den durchaus szenisch interessanten Erzählfluss immer wieder unterbrechen muss.

Jeder hat das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Wie ein roter Faden zieht sich diese Sehnsucht der Protagonisten durch alle vorgestellten Bücher. Spärliche Mauerreste oder zeithistorische Fakten sagen wenig über die Mechanismen autoritärer Machtsysteme und menschliche Schicksale aus. Geschichten bringen da eher Licht ins Dunkel. Die Autoren, der heute vorgestellten Bücher, wollen keine Lehrstücke abliefern, sie haben sich etwas von der Seele geschrieben, das den Leser berühren und zum Nachdenken bewegen kann.

Quelle
dradio.de
Wirklich gute Freunde sind Menschen, die uns ganz genau kennen, und trotzdem zu uns halten.

Marie von Ebner-Eschenbach

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