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balaton-service.info - Das Forum für Ungarn / A k t u e l l e s / Was man gerade erfahren hatt / Allheilmittel oder Todesstoß?
In diesem Thread befinden sich 1 Posts.
Markus J. Marschner
icon01.gif Allheilmittel oder Todesstoß? - 10.11.2007, 15:09:34
Skype: markusmarschner
2385 Posts - Magyar Vagyok
carpe diem
Allheilmittel oder Todesstoß?

Die Gesundheitsreform in Ungarn steht wieder im Fokus der Kritik

Einer der Hauptgründe für die dramatisch gesunkene Popularität der linksliberalen Regierung ist die Einführung von Kostenbeiträgen im Gesundheitswesen. Angesichts des gewaltigen jährlichen Defizits der Krankenkasse, das sich mit Hilfe des angeschlagenen Budgets immer schwieriger kompensieren lässt, wurde ein in Westeuropa weit verbreitetes Modell eingeführt: Pro Arzt- und Ambulanzbesuch sowie pro Tag im Krankenhaus sind jeweils 300 Ft (1,30 Euro) zu zahlen. Die jährliche Obergrenze für diese Gebühren beträgt insgesamt 6.000 Forint. (23 EUR) Wer mehr bezahlt, bekommt das Geld zurück.




Die Einnahmen aus diesen recht bescheidenen Summen sind trotzdem nicht unbedeutend und bleiben beim Arzt, bzw. bei der Gesundheitsinstitution. Doch das Hauptziel war, die auf das System drückende Last zu mindern. Erinnern wir uns: Der Ungar, seit Generationen an eine „freie“ (kostenlose) Gesundheitsversorgung gewöhnt, ging auch beim kleinsten Wehwehchen zum Kreisarzt oder ins Spital – auch schon mal, um sich endlich aussprechen zu können. Seitdem diese Leistung etwas kostet, gehen 10 Prozent weniger. Das Paradoxon: Die „freie“ Versorgung war nie frei. Um die eigene Gesundheit besorgt und sich des mageren Verdienstes von Ärzten und Pflegepersonal bewusst, ist das sogenannte „Dankgeld“, also die schwarze Bezahlung oder eben ein Vorschuss, allgegenwärtig. Die unversteuerten Einkünfte eines Teils der Ärzteschaft – vor allem Chirurgen, Frauenärzte, Internisten – werden auf mehrere Zehmilliarden (Forint) im Jahr geschätzt.



Das System hat Macht über Leben oder Tod

Das System bedeutet auch die Macht mancher Chefärzte und Krankenhausdirektoren über Leben und Tod: Wer kommt wann in welche Institution? Die wirklich guten sind überfüllt. Welche Behandlung und Pflege wird der Patient erfahren? Ohne der Mehrheit derjenigen Ärzte, die im Geist ihres Hippokratischen Eides ohne Unterschied das Beste geben, zu nahe treten zu wollen: Nicht selten kann Geld entscheiden.

Dies alles geschieht in einem System, in dem sich vor der Wende jede kleinere Stadt als Statussymbol auch ein kleines Krankenhaus gewünscht hat. Trotz der im europäischen Durchschnitt erheblichen Zahl der Kranken entstand auf diese Art und Weise eine beträchtliche Überkapazität. Viele Spitäler wurden bei weitem nicht ausgenutzt, verschlangen aber dennoch Riesensummen. Gleichzeitig blieb das Niveau eines kleinen Provinzspitals sowohl hinsichtlich der Ausrüstung als auch der Qualität des Personals vielfach unter jenen der großen medizinischen Einrichtungen in Budapest und anderen Großstädten zurück.

Den Entschluss der Gyurcsány-Regierung, dies alles endlich zu ändern und ein normales, funktionsfähiges Gesundheitssystem aufzubauen, kann man nur als heroisch bezeichnen. Vor allem die Liberalen fungierten als Motor der Reformen – schossen aber offenbar über das Ziel hinaus. Ein vollständig privatisiertes System, bei dem die weniger betuchten Patienten nur auf eine elementare Versorgung Anrecht haben, ist unmöglich. Dies gilt umso mehr in einem verarmten Land mit Millionen kranker, alter und gebrechlicher Menschen.




Plötzlich entdeckten zahlreiche
Sozialisten ihr soziales Gewissen neu

Was zu erwarten war, trat ein: Es gab einen heftigen Aufschrei angesichts des ersten, bescheidenen Schrittes, der die Einführung der Kostenbeiträge sowie die Schließung mancher Spitäler bedeutete. Plötzlich entdeckten zahlreiche Sozialisten ihr soziales Gewissen neu – fürchteten wohl auch um ihr Mandat – und stemmten sich gegen die Pläne des liberal geführten Gesundheitsministeriums. Aus einem zähen Ringen wurde ein Kompromiss geboren, der ein Gemisch aus staatlicher und privater Krankenversorgung vorsieht. Es ist ein Modell, das es in dieser Form nirgendwo auf der Welt gibt und dessen Funktionsfähigkeit viele bezweifeln, darunter die Ärztekammer und die Gewerkschaften.

Und die bürgerliche Opposition ließ schon mehrfach wissen: Sollte sie bei den nächsten Wahlen (spätestens 2010) an die Macht kommen, würde dieses System wieder abgeschafft werden.



Wettbewerb der Krankenkassen

Gemäß des Regierungsbeschlusses, der mit den Stimmen ihrer Parlamentsmehrheit in diesen Wochen angenommen wird, werden am 1.1. 2008 insgesamt 22 Krankenkassen gegründet: je eine in 18 Komitaten, dazu insgesamt vier in der am dichtesten besiedelten Region der Hauptstadt und des umgebenden Komitats Pest. Die neuen Kassen wirken in der Form einer Aktiengesellschaft, an der der Staat mit 51 Prozent Mehrheitseigentümer bleibt. Privatinvestoren werden um die restlichen Anteile von 49 Prozent bieten können. Entsprechendes Kapital und Know-how sind bei der internationalen Ausschreibung Bedingung, wobei sich manche Akteure des Gesundheitswesens wie Pharmafabriken oder Erzeuger von technischen Einrichtungen nicht beteiligen können. Wer das höchste Angebot vorlegt, kann Mitte nächsten Jahres mit der Anwerbung seiner Kunden beginnen. Es wird geschätzt, dass sich ihre Zahl pro Kasse zwischen einer halben und zwei Millionen bewegen wird, was letztlich nach Fusionen höchstens zehn bis zwölf Kassen bedeuten kann. Die Regierung schätzt die zu erwartenden Einnahmen von den Privatinvestoren auf 50 bis 100 Mrd. Ft. (Zum Vergleich: das Gesundheitsbudget für 2007 umfasst 713 Mrd.)

Die staatliche Finanzierung erfolgt durch eine differenziert berechnete Pro-Kopf Quote, wobei natürlich für ältere Versicherte mehr überwiesen wird. Übrigens sollen die teils privaten Kassen nicht die Möglichkeit haben, jemanden abzuweisen. Ein jeder, der sich bei welcher Kasse auch immer anmeldet, muss ungeachtet des Gesundheitszustandes aufgenommen werden. Auch ein Wechsel der Kasse, zweimal pro Jahr, wird erlaubt sein. Laut Gesetz steht jedermann auch weiterhin die bisher gesicherte Versorgung zu. Allerdings sind noch wichtige Fragen ungeklärt, so unter anderem, wie Transplantationen und ähnliche sehr kostspielige Eingriffe verrechnet werden sollen.

Das Hauptargument der Reformer lautet: Der Privatinvestor werde dafür Sorgen, dass die Akteure des Gesundheitswesens effizienter arbeiten und dafür entsprechend bezahlt werden – was das Verschwinden des „Dankgeldes“ mit sich bringen kann. Auch die Spitäler und Ambulanzen müssen beim Wettbewerb mithalten. Wer schwach oder ineffektiv ist, muss eben schließen.

Argumente der Reformgegner: Der durchschnittliche Patient wird ausgeliefert, er muss unter Umständen in weiter Entfernung vom Wohnort Pflege suchen sowie nicht wirklich alles – wie bisher kostenlos – erhalten können. Zahlungsfähige Patienten werden alles haben können, der Rest, mit anderen Worten die große Mehrheit, viel weniger.



Privatkapital nur mäßig interessiert

Vor dem Hintergrund der keineswegs leichten Bedingungen, bei denen die Hände des Privatinvestors ziemlich gebunden sind, soll das Interesse nicht überwältigend sein. Höchstens 3,5 Prozent des Quotengeldes dürfen für Betriebskosten aufgebraucht werden und in den ersten fünf Jahren muss die Hälfte des versteuerten Gewinns (später nur 10 Prozent) als Reserve angelegt werden. Eine Dividende ist frühestens in drei Jahren zu erwarten, doch kann diese nicht mehr als zwei Prozent der Kopfquote ausmachen, was durchschnittlich 600 – 800 Mio. Ft bedeuten würde.

Die Investoren haben auch an die Drohungen des Fidesz zu denken, wonach in zwei Jahren alles rückgängig gemacht werden könnte. Dessen ungeachtet sollen sich manche in- und ausländische Investoren doch Hoffnungen machen. Genannt werden u.a. der Ölkonzern MOL ebenso wie die Bank OTP. Paradoxerweise gehört auch eine Gruppe von betuchten Privatpersonen dazu, darunter der frühere Notenbankpräsident und Ex-Finanzminister der Fidesz-Regierung, Zsigmond Járai.

(c) Text & Fotos: PESTER LLOYD
Quelle:
pesterlloyd.net
Wirklich gute Freunde sind Menschen, die uns ganz genau kennen, und trotzdem zu uns halten.

Marie von Ebner-Eschenbach

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