balaton-service.info - Das Forum für Ungarn Forum

Übersicht
 
Anmelden
 
Suchen
 
Hilfe
 
Top-User
 
Login
 
balaton-service.info - Das Forum für Ungarn / A k t u e l l e s / Was man gerade erfahren hatt / Gut fürs Überleben, nicht gut fürs Leben
In diesem Thread befinden sich 1 Posts.
Markus J. Marschner
icon01.gif Gut fürs Überleben, nicht gut fürs Leben - 30.12.2007, 14:04:06
Skype: markusmarschner
2385 Posts - Magyar Vagyok
carpe diem
Gut fürs Überleben, nicht gut fürs Leben
Péter Nádas blickt auf das kommunistische Ungarn zurück und schaut skeptisch in die Zukunft
Spurensicherung - das klingt nach Kriminalroman. Und in der Tat geht Péter Nádas in den Texten seines Bandes wie ein Kriminalist vor. Er sammelt Erinnerungssplitter, verstreute Indizien, Bilder, Gerüche und Gerüchte. Wie lebte und überlebte man in Ungarn, in einer kommunistischen Diktatur, die mit dem blanken Terror der Schauprozesse Ende der vierziger Jahre begann, nach der Niederschlagung des Aufstandes 1956 eine zweite Terrorwelle erlebte, sich danach sukzessive zur vermeintlich "gemütlichsten Baracke im Kommunismus" wandelte und schließlich 1989 wie die anderen kommunistischen Regimes sang- und klanglos unterging?Péter Nádas, 1942 in Budapest geboren und Autor des großen Romans "Buch der Erinnerung", in dem die Geschichte des 20. Jahrhunderts, seiner Irrungen und Wirrungen, aufgehoben ist, hat seit Mitte der sechziger Jahre die Position des Beobachters und des Chronisten eingenommen. Als Kind kommunistischer Eltern, die in seiner Jugend verstarben, war er eigentlich für eine Karriere im Partei- und Staatsapparat prädestiniert. Doch Sensibilität, geschärfte Wahrnehmungsgabe und Eigensinn trieben ihn in eine andere Richtung. Seinen Job als Fotograf und Zeitungsreporter gab er schon mit Mitte zwanzig auf und arbeitete fortan als Schriftsteller.Bis 1989 durfte er wenig veröffentlichen, seine Manuskripte wurden von Verlagen angenommen, um nicht veröffentlicht zu werden; sie lagen dann jahrelang in irgendwelchen Schubladen. An Reisen ins westliche Ausland war nicht zu denken, die materiellen Verhältnisse des hartnäckig für sich arbeitenden Schriftstellers waren prekär, die Hoffnungen auf einen Wandel der erstarrten Verhältnisse hielten sich im Sinne des Wortes in Grenzen.Péter Nádas erwähnt diese ihn bedrängende Situation nur am Rande, Dramatisieren ist nicht seine Sache. Ohne dass er es explizit ausspricht, kennt er auch die Vorteile seiner Isolation: das gesellschaftliche Abseits ist zwar kein sicherer Ort, physische und psychische Gefährdungen und Deformationen drohen auch hier, doch die relative Unabhängigkeit, die sich für das Individuum ergibt, ist ein hohes Gut. Sie gewährt zum Beispiel die Möglichkeit, genau hinzuschauen.In dem 1977 erstmals in einer Untergrundzeitschrift veröffentlichten Text "Spurensicherung" schildert Nádas, wie er einen verwunschenen und verdammten Ort entdeckt, der sich im Lauf der Jahre fast in eine Idylle verwandelt hat. Bei einem Besuch in einer Villa in den Hügeln von Buda erkennt er plötzlich mit Schaudern, Entsetzen und Faszination, dass er sich in dem Haus befindet, in dem 1949 László Rajk und andere Kommunisten festgehalten, verhört, gefoltert und für Schauprozesse präpariert wurden.Er setzt sich dem Geist des Ortes aus, und das längst Vergangene wird wieder bedrückend gegenwärtig. Als Kind hat er vor diesem Haus im Winter seine Skier angeschnallt, ohne zu wissen, dass dort Kardinal Mindszenty, Rajk und viele andere gefangen gehalten und gequält wurden. Die Geschichte des kommunistischen Ungarns materialisiert sich geradezu in diesem Haus.Die Lebenslinien unterschiedlichster Menschen kreuzen sich hier nach dem Prinzip des Zufalls: Warum wird der eine zum Opfer, warum der andere zum Täter? Warum wird der hohe Funktionär Rajk hingerichtet, der andere hohe Funktionär Rakosi nach seinem Sturz 1956 aber mit dem Leben belohnt? Was macht den Geheimdienstchef Gabor Peter zum bestialischen Folterer, der sich nach seiner Laufbahn wieder in einen jovialen und netten Mann verwandelt? Hat auch er wie seine Opfer unter Todesangst gelitten?Das sind die Fragen, die sich im 20. Jahrhundert nicht nur in Ungarn, nicht nur unter der Herrschaft kommunistischer Regimes gestellt haben. Der "grässliche Fatalismus der Geschichte", den schon Büchner konstatiert und beklagt hatte, wird von Nádas kühl und doch nicht ohne Erschütterung dargestellt. Der Leser hat die größte Freiheit, sich seine eigenen Gedanken über all das Vergangene zu machen, über die Gewalt totalitärer Herrschaft und das Verhältnis des Einzelnen zu dieser Gewalt.Wie ein dunkler Spiegel steht die 1973 entstandene Novelle "Heute" dem dokumentierenden Bericht "Spurensicherung" gegenüber. Ein junger namenloser Mann geht wie ein Fremder durch eine Welt, die sich ihm verschließt, eine Welt des Stillstands und der Depression und der totalen Entfremdung. Der erste Satz beschreibt das herrschende Lebensgefühl mit hinreichender Deutlichkeit: "Etwas ist zu Ende gegangen, und etwas anderes will nicht dafür kommen."Und dann kommt doch das Andere: Die Systemgrenzen fallen, der Kalte Krieg ist zu Ende. Es spricht für die sorgfältige Komposition dieses schmalen, aussagekräftigen Bandes, das zwischen dem Dokument und der Novelle, die das Gestern beschwören, als essayistisches Mittelstück steht, in dem über das Vergangene und das Gegenwärtige reflektiert wird. Im Essay "Parasitäre Systeme" untersucht Nádas die konkurrierenden Systeme Ost und West, kommunistische Diktatur und parlamentarische Demokratie. Er folgt ihren Kampfpositionen, benennt unterschwellige Gemeinsamkeiten, beschreibt "Ebenen der krankhaften Simulation und der pathologischen Dissimulation von beiden sich gegenüberstehenden parasitären Systemen". Er konstatiert "den totalen Gedächtnisverlust", den die Bewohner des Ostens gewählt haben, ihre Unfähigkeit, sich von ihrer "chiffrierten Sprache und den paranoiden Rollenspielen" zu lösen. Die Erfahrungen, die in der Diktatur gemacht wurden, sind, so Nádas, "gut fürs Überleben, nicht aber für das Leben". Und der Westen: "Der Egoismus der großen, eingespielten liberalen Demokratien (basiert) auf dem Genussprinzip, nicht auf dem Überlebenszwang." Zwei Prinzipien des Egoismus stehen sich gegenüber: der egoistische und rücksichtslose Überlebenswille des Ostens und der hedonistische Egoismus des Westens. Der Ausblick, den Nádas wagt, ist düster: "In Europa bestehen zwei große Systeme, die auf Grund der Unterschiede ihrer inneren Struktur nicht nur unfähig zur Integration sind, vielmehr ist zu fürchten, dass sie auch nur schwerlich fähig sein werden, in Frieden miteinander zu leben."Péter Nádas fordert zum Mit- und zum Gegendenken auf. Es ist Rückblick auf eine Epoche und Ausblick auf die Zukunft und deren vielfältige Gefährdungen. Die alten Fragen bleiben: Wie kann sich der Einzelne, wie können sich Gesellschaften gegen den Einbruch totalitärer Gewalt wehren? Trotz der pessimistischen Grundierung seiner Gedanken und seines Schreibens macht Péter Nádas Mut, sich den kommenden Herausforderungen mit ziviler Courage zu stellen.Péter Nádas:Spurensicherung.A. d. Ungar. v. Akos Doma u. Ruth Futaky. Berlin Verlag, Berlin. 175 S., 16 Euro

Quelle:
http://www.welt.de/welt_print/article1501790/Gut_frs_berleben_nicht_gut_frs_Leben.html
Wirklich gute Freunde sind Menschen, die uns ganz genau kennen, und trotzdem zu uns halten.

Marie von Ebner-Eschenbach

www.balaton-service.info - Das Forum für Ungarn - frei unabhängig unparteiisch


balaton-service.info goes wiki - Das bsi - wiki - portal

b-s.i goes facebook ... und als b-s.i facebook Gruppe
Forum wechseln
Forum wechseln zu:
-- pForum 1.29a / © Thomas Ehrhardt, 2000-2006 --
analyticstracking.php